zurück

Tut gut, wenn's weh tut.
Foto Ritzen

info | fotos | presse

Ritzen
von Walter Kohl

Schwäbische Post, Jugendseite, 14.10.2003
Unbedingt perfekt
Nachdenkliches / Jugendliche beeindruckt vom Stück "Ritzen" des Theater der Stadt Aalen

  • Es geht um das Leben der jungen Fritzi, die sich wie viele Jugendliche selbst verletzt. So geht sie mit Unsicherheit, Angst und Überforderung um. "Ritzen" vollzieht sich in einer Welt, die voll ist von Möglichkeiten und doch spürt Fritzi nichts als Leere. Die Jugendredaktion hat das beeindruckende Stück des Theaters der Stadt Aalen gesehen und Meinungen gehört.

    Das Internet - unendliche Weiten und eine Anonymität, durch die Jugendliche der Welt entfliehen. Für Fritzi die einzige Möglichkeit, Kontakt zur Außenwelt zu halten. Ritzen als Möglichkeit zu entfliehen. Als einzige Möglichkeit, sich selbst wahrzunehmen. Ritzen - Selbstverstümmelung - ist ein Problem, das immer mehr Jugendliche einholt. Auch Erwachsene bleiben nicht verschont. Es gibt viele Gründe fürs Ritzen, einer davon ist Mobbing.

    Ritzen entstand aus Chatgesprächen mit einer betroffenen 14-Jährigen. Der Journalist, Schriftsteller und Dramatiker Walther Kohl machte aus diesem Gespräch einen Monolog. Theater? Ein Monolog? Als wir das hörten, waren wir nicht gerade Feuer und Flamme. Im Alten Rathaus zu Aalen wurden wir vom Gegenteil überzeugt.

    Allein der Anfang mit harter Eminem-Musik ließ staunen. Was der Anfang versprach, wurde gehalten, auch wenn einige Besucher das Stück weder besonders ansprechend noch besonders spannungsgeladen fanden. Gänsehaut war garantiert. Durch den verblüffenden Einsatz moderner Technik wie Kamera und Laptop. Und durch Sprache, Gestik und Mimik der Schauspielerin. Wer gedacht hatte, Theater sei langweilig und nur für Ältere, wurde eines Besseren belehrt. Dieses Stück war so realitätsnah und verständlich, wie sonst nur das wirkliche Leben. Insbesondere den jugendlichen Besuchern, die teils in besonders langeweilegefährdeten Schulklassen anrückten, hat dieses Theaterstück offenbar gefallen. "Echt der Hammer!", fasste einer die Meinung vieler in Worte. Doch auch die ältere Generation fühlte sich angesprochen, und ein paar herzhafte Lacher machten das Stück perfekt. So unwirklich "perfekt" klingt, für dieses Stück scheint es genau die richtige Bezeichnung zu sein. Also unbedingt weiterzuempfehlen. Schaut es euch auf jeden Fall an, es lohnt sich mehr als mancher Kinobesuch!
    (Larissa Hübener & Anna Schlipf)


Aalener Nachrichten, 14.10.2003
Perfekte Darstellung der Sprunghaftigkeit

  • "Fritzi" liegt auf dem Boden in der Ecke. Auf den weißen Wänden des auf zwei Seiten offenen Zimmers scheint nur die Leinwandfigur am Leben zu sein. Plötzlich ertönt Eminems "The way I am" in voller Lautstärke. "Fritzi" erwacht aus ihrer Erstarrung, versucht ihre Gefühle auszutanzen. Scheitert - und das "Ritzen" beginnt. Anne Klöcker alias "Fritzi" gelingt es im Studio des Alten Rathauses so überzeugend, ihre Rolle auszuleben, dass die Zuschauer, vom Gefühlsstrom überwältigt, wie gebannt zusehen.

    "Ich fand es einfach klasse, wie schnell sich Anne in eine andere Persönlichkeit verwandelt hat", urteilt auch Sarah aus der Premierenklasse. Die perfekte Darstellung der Sprunghaftigkeit des Gefühls, das Hauptmerkmal beim sogenannten Borderline-Syndrom, lässt dem Zuschauer keinen Platz für Langeweile. Schwärmt "Fritzi" gerade noch von einem romantischen Sonnenuntergang mit ihrem Freund "Michi", treibt sie kurz darauf sein Seiten-Sprung, durch den auch sie von seiner HIV-positiv-Diagnose erfahren hat, zur Ekstase.

    Wütend ist sie, weil sie nur ausgenutzt wurde und keine wahre Liebe erfuhr. Manchmal ist sie sogar so wütend, dass sie von der Bühne springt und wild auf sie einschlägt. Dann fühlt sich selbst das Publikum als Mitwirkender in "Fritzis" Welt. Das ist Nervenkitzel pur, besonders wenn "Fritzi" einem in die Augen starrt und direkt anzusprechen scheint.

    Auch mit einer Kamera, die mitten im Publikum steht, versucht "Fritzi" zu kommunizieren. Beobachtet sich dabei, wie sie sich "ritzt". "Tut gut, wenn es weh tut. Wenn es weh tut, weinen Mädchen", betont sie immer wieder. Von Reizen überflutet, fühlt sie sich verloren, wird laut, beginnt zu schreien, flüstert. "Was drinnen ist, muss raus, und was draußen ist, muss rein" - dieser Gedankengang wird durch ihren Persönlichkeitswandel im Internet präzisiert. Als betrügende Ehefrau mit verstellter Stimme "chattet" sie mit "dem Lauser", während sie von "NMI" englische Liebesbotschaften erhält. Doch gerade wegen ihrer Anonymität verfolgt sie das "No Message lnside"-Gefühl auch hier, so dass zum zweiten Mal die in der Wand versteckte Rasierklinge zum Aggressionsabbau herhalten muss.

    Neben der Akustik versteht es Klöcker, durch Gestik und Mimik optisch zu fesseln. Sei es durch Zischgeräusche, die den Weg der "E-mail" imitieren, oder durch jugendliches Machogehabe, um ihren Freund "Michi" zu charakterisieren - trotz der unter die Haut gehenden Problematik mangelt es keineswegs an humorvollen Einlagen.

    Als in per Zufall kreierten Liebesbriefen im Netz Jugendjargon wie "sprachlose Dreckschwanzstunden" auf Poetik trifft, kann sich keiner ein Lachen verkneifen. Der Bruch des Amüsanten verläuft sprunghaft, so dass bald wieder Tränen fließen. Ein Spannungsaufbau zwischen Romantik und Verzweiflung ist es, den Klöcker durch ihre Schauspielkunst realistisch verknüpfen kann.

    Regisseur Winfried Tobias zeigte sich nach der ausverkauften Premierevorstellung zufrieden: "Die positive Resonanz bei der Premierenklasse gibt uns die Sicherheit, dass wir die Zielgruppe erreicht haben." Aber nicht nur für Schüler ist das Stück attraktiv. Die teilwelse schockierenden Reflektionen können auch Erwachsenen helfen, Sorgen der Jugendlichen von heute besser zu verstehen.
    (Julia Honikel)


Schwäbische Post, 13.10.2003
Gefangen in zu vielen Freiheiten
"Ritzen" hat Premiere und geht unter die Haut

  • "Noch nie jemand ritzen gesehen?", fragt Fritzi cool. "Es tut nicht weh. Ein kleiner Ritsch, und rot bist du. Nein, stimmt nicht. Tut schon weh. Soll ja wehtun. Weißt erst, dass es dich gibt, wenn du spürst. Tut gut, wenn es wehtut." Ein Stück, das unter die Haut geht, hatte am Wochenende am Theater der Stadt Aalen Premiere: "Ritzen".

    Fritzi, fast 15, zelebriert ihr Ritual: zündet Teelichter in Blümchenform an, tränkt ein Tuch in Alkohol und greift zur Klinge. Davor lag sie in eine Ecke gekauert, hat dann wild getanzt. Ihre unerträglichen Gefühle und Gedanken hat sie dabei nicht verloren. Nur das Ritzen scheint zu helfen: "Schlitz es auf, das Glitschhautding. Dann kann das Raus rein und das Rein raus."

    "Ritzen" entstand nach der authentischen Geschichte einer 14-jährigen Selbstverletzerin, die der österreichische Journalist und Schriftsteller Walter Kohl in einen Monolog gepackt hat. Den Schmerz, die Tiefgründigkeit aber auch den Witz in diesem Ein-Frau-Stück setzt Schauspielerin Anne Klöcker sehr beeindruckend in Szene.

    Kalt ist die Bühne, auf der sie sich als Fritzi bewegt und spiegelt die menschliche Kälte und Gleichgültigkeit wider, die die junge Frau erfahren hat. Was sie für ihr Ritual braucht, hat Martina Ebel, die für die Ausstattung des Stücks zuständig war, hinter der Bodenleiste versteckt. Was bleibt ist das wichtigste Bezugsobjekt: Ein Laptop, samt Modem und Webkamera. So kommuniziert sie. In eine Welt, die ihr offen steht und alle Freiheiten bietet.

    Genau das ist Fritzis Verhängnis. Grenzen und Gewissheiten hat sie nicht. Schlechte Erfahrungen umso mehr. Ihre Identität zu finden, fällt schwer. Also schlüpft sie in Rollen. Anne Klöcker überzeugt als 15-Jährige ebenso wie als vollbusiger Dolly-Buster-Verschnitt.

    Winfried Tobias hat "Ritzen" nicht als Lehrstück inszeniert. Es macht nicht betroffen oder erhebt den Zeigefinger, aber das autoagressive Verhalten der Protagonistin geht unter die Haut. Er zeichnet ein sehr persönliches und individuelles Bild einer Selbstverletzerin. Mit Hilfe von Videoprojektionen von Fritzi und ihrer Haut schafft er eindrucksvolle Bilder, die er in Klänge bettet: Eminem, Madonna, die Startmelodie des Computers und ein Biep, wenn Emails ankommen. Auch das Tippen und Absenden oder Löschen der Botschaften fügt sich in diese Computer-Sinfonie. Senden ist nicht nur ein Mausklick.

    Neben den vielen schockierenden Botschaften, die Fritzi erzählt, gibt es dennoch Momente zum Lachen. Das befreit. Mit ihrem grandiosen Spiel nimmt Anne Klöcker das Publikum leicht mit und kann der sprunghaften Persönlichkeit einer Selbstverletzerin und Grenzgängerin folgen. Ein Blick in die Kindheit, eine Imitation ihres Freundes im Streitgespräch mit ihr, mal wütend, mal verteidigend, aber immer überzeugend. Mit "Ritzen" ist das Theater der Stadt Aalen am Puls der Zeit und spricht ein Phänomen bewusster Selbstverletzung an, das immer mehr zunimmt und bereits ein Prozent der Bevölkerung betrifft.
    (Anja Rettenmaier)