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Eltern sind immer interessant, weil sie sind immer am Arsch, aber sie sind ganz dicht an dem dran, wie man selber ist.
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REIHER
von Simon Stephens

Aalener Nachrichten, Mo. 08.03.2004
Jugendstück "Reiher" zeigt auch schonungslose Gewalt

  • Direkt, persönlich und erschreckend realistisch ist die "Reiher"-Inszenierung des Theaters der Stadt. Neben den beiden Schauspielern Leif Stawski und Anne Klöcker wurden fünf arbeitslose Jugendliche für das Jugendstück von Simon Stephens engagiert. Am Samstag feierte es Premiere.

    "Das Beste ist, wenn die Fische aus dem Wasser kommen und noch leicht schimmern", philosophiert Billy. Täglich sitzt er in einem Londoner Stadtteil am Kanal vor der Schleuse und angelt. Schmutzig ist es hier, wahrlich kein schöner Ort. Jedoch der Einzige, an dem Billy für sich sein kann, Zeit hat, nachzudenken und zu träumen, von einem anderen Leben. Das Angeln hilft Billy, die Risse in seiner Seele zu kitten, die er als Scheidungskind einer alkoholkranken, gewalttätigen Mutter und eines antriebslosen, lebensverdrossenen Vaters zugefügt bekam.

    Das wären schon genug Sorgen für einen 14-Jährigen. Doch die Gang um Scott Cooper alias Pino Merkle macht Billy das Leben noch schwerer. Scott hat einen Bruder, der im Knast sitzt; denn er hat ein zwölfjähriges Mädchen umgebracht. Billys Dad wurde Zeuge der Tat und zeigte Scotts Bruder bei der Polizei an. Das muss Billy nun büßen.

    Ralf Siebelts Inszenierung zeigt die schonungslose Gewalt unter den Jugendlichen, zeigt Ausgrenzung und Gruppenzwang, durch die Scott seine Kumpels Aaron Rilley (Ali Kütükcüoglugil) und Darren Madden (Vito Maniscalco) an sich bindet. Die Gang sucht Billy fast täglich an dessen Platz am Fluss auf. Dort beschimpfen sie ihn, ziehen an seinem roten Sweatshirt, werfen ihn zu Boden und treten ihm mit den Füßen in den Bauch, so dass sein Gesicht sich vor Schmerz verzerrt. Bis er Adele Kent (Nadja Ghanem) kennen lernt. Jeden Tag kommt sie zu Billys Platz am Fluss. Und eines Tages sucht sie das Gespräch. Sie glaubt an Billy, auch, wenn sie eigentlich mit Scott befreundet ist.

    Nah dran am Leben ist das Stück. Nah dran sind auch die Zuschauer, die inmitten des Geschehens sitzen: Sie sind praktisch der Kanal, im Halbkreis um sie herum ist die Bühne, auf der sich die Schauspieler bewegen. Mit Drehstühlen kann sich jeder dem Geschehen auf der von Max Julian Otto entworfenen Bühne zuwenden.

    Fünf arbeitslose Jugendliche hat das Theater der Stadt engagiert. Ein auf den ersten Blick schwieriges Unterfangen. Doch die unterschiedlichen Charaktere passen zum Stück. Die Rolle des Billy, den Sascha Richter verkörpert, ist durch die Wandlungsfähigkeit des Laienschauspielers sehr eindrucksvoll: unterwürfig und ängstlich, so ist Billy zu Beginn, Doch das ändert sich. Seine Stimme wird lauter, seine Gefühle brechen durch - und nicht mehr er hat Angst vor den anderen, diese fürchten sich nun vor ihm.

    "Ich finde es gut, wie direkt und reell dieses Stück geschrieben ist", resümiert Nadja Ghanem. Zwar spielten sich Gewalt und Klassenunterschiede in Aalen nicht so extrem ab, wie in London, meint die junge Laienschauspielerin. Das Stück mache aber bewusst, dass sich solche Szenen täglich auf der Welt ereignen. Auch, wenn die Meinungen der Zuschauer an diesem Abend auseinander gingen, ob das nun so deutlich gezeigt werden sollte.
    (Daniela Schurr)


Schwäbische Post, 08.03.2004
Eintauchen in die Gosse
"Reiher" auf der Bühne im WiZ

  • Langgestreckt ist die Reihe, in der die Stühle stehen. Und schmal. Rechts und links türmt sich die Bühne im WiZ und ein Scheinwerfer strahlt an diesem Samstag über die Stuhlreihen hinweg. Man ist geblendet, perspektivlos, genauso ohne Orientierung wie der Hauptakteur im neusten Stück des Aaleners Theaters, wie der Jugendliche Billy, der haltlos durch "Reiher" taumelt.

    Nein, haltlos wäre zuviel gesagt. Da ist Billys Vater, arbeitslos und auch ein wenig hilflos im Leben. Leif Stawski spielt diese verkrachte Existenz, schnoddrig, hoffnungslos, und ruft ambivalente Gefühle im Zuschauer hervor, schwankend irgendwo zwischen Mitleid und Abscheu. Und da ist Adele. Immer wenn Adele auftaucht, scheint das Grau der so karg und unwirtlich steil konstruierten Betonwüste eines namenlosen Stadtrands ein wenig zu leuchten. Die Betonwüste, das ist Billys Angelplatz und Dreh- und Angelpunkt des ganzen Geschehens. Billys Vater hat hier einst einen Reiher beobachtet, erzählt er wie im Selbstgespräch. Und einen Mord. Doch das erzählt er nicht, das frisst er in sich hinein, genauso wie die Angst vor den Tätern, die eines Tages das Gefängnis wieder verlassen werden. Der Strick der Story zieht sich nur langsam zusammen durch Dialoge, Gewaltakte, Atmosphäre. Es geht um Jugendliche im Stück von Brite Simon Stephens, ums Erwachsenwerden und um Angst. Denn Billy kann diese Angst nicht fressen, er droht zu ersticken an der Bedrohung, leidet unter Scott und seinen Jungs. Scott, dessen Bruder wegen Billys Vater im Gefängnis sitzt.

    So entfächert sich der Hintergrund von "Reiher" - viel mehr Handlung gibt es nicht und braucht es auch nicht. Es ist die Stimmung, die zählt. Es ist diese brodelnde Aggressivität, die stumpfe Taubheit, die ausstrahlt von Pino Merkle, Ali Kütükcüoglugil, Vito Maniscalco alias Scott und seiner Gang. Es ist diese sanfte ruhelose Traurigkeit, die Billy (Sascha Richter) umgibt wie einen Heiligenschein, die psychotische Verwirrtheit von Billys Mutter (Anne Klöcker), das fast philosophische Aufbegehren der geheimnisvollen Adele (Nadja Ghanem). Adele taucht auf und verschwindet wieder, vielleicht ist sie Billys Reiher, sein Symbol der Hoffnung, seine Utopie von Glück inmitten der beklemmend brutalen Szenerie, die in der Inszenierung von Ralf Siebelt authentischer kaum sein könnte. Vielleicht ist sie es, die immer wieder schimmernde Streifen von Poesie ins Dunkel webt, die sich abheben wie ein Leuchtfeuer von dem allumfassenden Gefühl der Angst und dem Wunsch zu fliehen aus diesem Moloch der Drogen, in dem nur der Stärkere überlebt. Das Stück ist authentisch, fesselnd, schonungslos und realistisch. Man kann hineintauchen in diesen Sumpf der Gossensprache, der einer gewissen provozierenden Poesie keineswegs entbehrt. Ja, man muss geradezu hineintauchen, sitzt man doch inmitten der Geschehnisse im Kanal, blicken einem doch Billy und sein Vater tief in die Augen, wenn sie gedankenverloren auf die Wasseroberfläche starren. Leise schwingen die Drehstühle des Publikums hin und her, der Dreh- und Angelpunkt, die Bühne türmt sich links wie rechts. Man kann mitfühlen mit den Kids, die auch im wahren Leben keine Schauspieler sind, die teils zum ersten Mal auf einer Bühne stehen und die teils das Gefühl der Perspektivlosigkeit nur zu genau kennen. Das Casting lief über das Arbeitsamt, die jugendlichen Theaterneulinge agieren intensiv, unmittelbar, ungefiltert.

    Das Ende bleibt offen bei "Reiher", der moralische Zeigefinger bleibt stecken in der geballten Faust. Und das Publikum bleibt noch lange sitzen und applaudiert wahrlich frenetisch diesem Höhepunkt vielschichtiger Theaterimagination hinterher. "Reiher" hat wahrlich voll ins Schwarze getroffen.
    (Vivien Moskaljuk)