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Ich hätte gerne mal ein angenehmes Gefühl.
Foto Helges Leben

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HELGES LEBEN
Ein schönes Theaterstück

Ludwigsburger Kreiszeitung, 01.02.05
Pralles Theater ohne langweilige Kompromisse
"Helges Leben" als Gastspiel des Stadttheaters Aalen im Stuttgarter Depot

  • Vom kleinsten Stadttheater Deutschlands, dem in Aalen, direkt auf die Bühne des Staatstheaters im Depot und dort gleich für einigen Wind gesorgt – das kann sich doch sehen lassen für Sybille Bergs "Helges Leben".

    Ein Gastspiel, das zum einen schon hie und da die Unterschiede bei den Produktionsmöglichkeiten zwischen einem kleinen Haus und einem Staatstheater deutlich macht, gerade an dieser Stelle, wo der Zuschauer eben meist auch bestimmte Erwartungen erfüllt bekommt. Aber das ist beileibe nicht nur von Nachteil. Denn Simone Sterrs Inszenierung strotzt nur so von fast anarchischer Unbekümmertheit, setzt voll auf frisches Komödiantentum und pralle Buntheit in jeder Beziehung.

    Eine Fabel für Erwachsene ist diese skurrile Geschichte nach dem Ende der Menschheit. Die Tiere haben die Macht übernommen, Herr Tapir und Gattin Reh gönnen sich in der Hollywoodschaukel einen Abend mit Entertainment und lassen sich vorführen, wie ein menschliches Leben, nämlich das des "Helge", verlaufen ist.

    Als Performerinnen haben "Frau Gitt" und "Frau Tod" noch einen Job gefunden und so nimmt ein recht turbulentes Spiel seinen Lauf. Eigentlich ist es bitter und tragisch, aber der bunte Klamauk, die Darbietung als schnöde Unterhaltung für das Tierbürgertum, deckt alles zu. So ist die ernüchternde Bilanz erträglich, wenn auch nicht weniger bitter.

    Eine Inszenierung, die sicher Anlass zu Diskussionen gibt, auch deshalb, weil sie klar einen Weg geht, wenig Kompromisse macht, auf pralles, lebendiges Theater setzt und so jegliche Moralität in die zweite Reihe setzt. Ansonsten macht Sterr aus den beschränkten Möglichkeiten eine Tugend, lässt – unterstützt von der Combo "Die Brosowskeys"– ihre Darsteller in verschiedene Rollen schlüpfen. Die lustig-naiven Kostüme tun ein Übriges. Die Regisseurin lässt ihr Ensemble spielen, was das Zeug hält, und vermittelt so den Eindruck einer Bühne, die vor allem Theater sein will. Das ist damit dichter am Leben, als so manche schwerblütige Inszenierung.
    (Arnim Bauer)

Aalener Anzeiger, 10.05.2004
Finsterster Stoff und doch hat die Düsternis keine Chance
Aus "Helges Leben", einem bitterbösen Stück von Sybille Berg, macht das Theater der Stadt eine beschwingte Musical-Show. Nein, das ist kein Widerspruch. Das Premierenpublikum im Alten Rathaus erlebte beste Unterhaltung.

  • Hingebungsvoll zupfen die "Brosowskeys" an ihren Instrumenten, singen die Darsteller "Oh, what a wonderful world", dabei ist die Welt so wunderbar nicht. Ganz und gar nicht. Jedenfalls nicht für Sibylle Berg.

    Die Autorin "um die 40" lässt der Welt keine Chance. Erbärmlich ist in ihren Stücken das Leben und klein. Umsonst suchen ihre Figuren nach Liebe und einem Sinn, beides existiert nicht. Es gibt nur die Angst, die ihnen zuflüstert: "Auf einmal fühlst du, wie schnell die Zeit vergeht. Du merkst, dass nichts sich ändert, auf einen Schlag. Du hast den Sinn der Veranstaltung immer noch nicht begriffen, das große Leben hat immer noch nicht begonnen, mit seinen dicken Gefühlen. Aber du hast den Tod erkannt."

    Nichts für Depressive ist das und es wäre auch für alle anderen nicht gerade lustig, hätte Sibylle Berg nicht so fetzig geschrieben und Simone Sterr nicht so klasse inszeniert. Haben sie aber. Für die Autorin gibt's die Menschen im Jahr 2004 (!) nicht mehr. Sie haben einfach aufgegeben. Dafür pflegen die Tiere ein zivilisiertes Dasein. Gerne lassen sie sich des abends von Frau Gott und Frau Tod ein Menschenleben vorführen, in diesem Fall: Helges Leben.

    Simone Sterr setzt die Tiere - einen Tapir, ein Reh und einen Schnapphamster - in einem Kleingarten auf eine Hollywoodschaukel, sorgt für Möhren zum Knabbern, für Glitter, Tanz und Musik, und wenn Herr Tapir flötet: "Schatzi, es geht los", hat das Vergnügen schon längst begonnen.

    Da wäre zunächst das Entertainer-Duo. Katja Gaudard darf als Frau Gott im unschuldig-weißen Tutu einer Ballerina zu Unterhaltungszwecken Helges Leben auf die Bühne bringen. Frau Tod - Ina Fritsche als sündhaft sexy Vamp in Schwarz – haucht dazu ihre Lieder. Die meisten der Feel-Good-Melodien aus Pop- und Jazz-Elementen haben die Brosowskeys (Wolfgang Rosner am Schlagzeug, Klaus Brosowski am Piano und Friedrich Kienle am Kontrabass) zu Bergs Text komponiert. Ein paar Hits kommen dazu, unter anderem "Your're my heart, you're my soul". Dieter Bohlen spielt in Sterrs Inszenierung von Helges Leben durchaus eine Rolle...

    Dabei hat die Autorin dem Titelhelden (Axel Brauch) doch schon genügend aufgebürdet. Was es auch Grauenhaftes gibt im Leben, Sibylle Berg erspart ihm nichts: Als Baby allein gelassen, als Schüler gehänselt, erschlägt Helge als Jugendlicher seinen Vater, scheitert als Erwachsener im Beruf, lässt seine schwangere Freundin hängen, reißt buchstäblich zwei Frauen auf und bringt sie um, wandert ins Gefängnis und endet alt und siech im Pflegeheim.

    Finsterster Stoff also, und doch hat die Düsternis keine Chance. Das liegt an vielem, angefangen beim herrlich überzogenen Spiel der Menschen-Darsteller. Leif Stawski mimt Helges Vater Helmut als bierbauchigen Proleten, Ina Fritsche seine Mutter Helga als überdrehte Ziege, und Anne Klöcker ist seine unverbrauchte Freundin Tina. Dazu kommt der Kniff der Autorin, die Ängste der Menschen leibhaftig auftreten zu lassen. Wenzel Banneyer spielt Helges Angst so, wie sein Kostüm daherkommt: schrillgrell und aggressiv. Leif Stawski verwandelt sich als Tinas Angst zur Bahnhofshure.

    Gänzlich zur Party wird der Abend dank der Tiere. Gunnar Kolb ist ein umwerfender Tapir, Anne Klöcker als Reh ein echtes Bambi, der Schnapphamster herrlich. In dem pelzigen Kostüm steckt wieder Leif Stawski. Drei Rollen hat er, Ina Fritsche sogar vier.

    So ist die Inszenierung: voller fliegender Wechsel und lautem Trubel, mal spulen die Tiere in Helges Leben vor, mal mischen sie sich darin ein, und zur Moderation sind Frau Gott und Frau Tod noch immer gut.

    Hey, es ist alles Show, da darf Leif Stawski auf dem Weg von einem Kostüm zum anderen auch mal in der Unterhose durch den Kleingarten rennen. Was für ein gnadenlos gutes Stück Theater. "Außerdem", sagt hinterher eine Zuschauerin, "steckt darin mehr als nur ein Körnchen Wahrheit."
    (Sylvia Möcklin)

Schwäbische Post, 10.05.2004
Die Angst tanzt auf der Gartenparty
Schrill, böse, stark: "Helges Leben" im Schrebergarten des Studios im Alten Rathaus

  • Am Anfang und am Schluss intoniert das gesamte Ensemble mit Inbrunst den Songklassiker "What a wonderful world". Dazwischen erfährt das Publikum auf den Bierbänken bei der Gartenparty im Studio im Alten Rathaus aber wirklich hautnah, was Sibylle Berg darunter versteht. Helges Leben ist der schale Triumph des Mittelmäßigen - bravourös in Szene gesetzt von Frau Gott und Frau Tod mit sachkundiger Assistenz von Simone Sterr. Wonderful! Tierisch gut!

    Tierisch gut ist in diesem Fall gesellschaftlich korrekt. Denn in Sibylle Bergs satirischer Fabel haben wie in "Animal Farm" die Tiere das Kommando übernommen. Endgültig. Weil sich die Menschheit ihrer selbst überdrüssig geworden ist. Die Evolution verlaufe rückwärts, stellt das Reh fest. Was uns als Gäste dieser von Gitti Scherer atmosphärisch korrekt ausgestatteten Gartenparty in die glückliche Lage versetzt, als Menschen Tieren zuzugucken, die sich vorführen lassen, wie einst die Menschen gelebt haben. Und was erfahren wir abends bei Tapir und Co.: den schnöden Alltag, den wir zur Entspannung hinter uns lassen wollten. Von der Wiege bis zur Bahre. Und dass Tiere auch nicht die besseren Menschen sind. Aber das ist das einzig Beruhigende.

    Nicht ganz. Als Helge am Ende eines nur durch ein kurzes Liebesintermezzo mit Tina erhelltem freudlos-dumpfem Leben aus eben diesem von Frau Tod entsorgt wird, stirbt zuerst die Angst, die ihn tagein, tagaus begleitet hat. Diese Angst hat einen Namen: Wenzel Banneyer. Man erschrickt zutiefst, wenn dieses drahtige Energiebündel im grellbunten Anzug mit den Absätzen auf die Terrassenbühne, die zugleich Showbühne ist, und ins Bewusstsein knallt. In Simone Sterrs punktgenauer und nachtwandlerisch sicher "getimten" Inszenierung gibt es noch mehr solcher Momente, die zeigen, wie die unerträgliche Seichtigkeit des Seins in einen unterhaltsam fesselnden Comic gebannt werden kann. Wenn man das passende Personal dazu hat: Neben dem überragenden Banneyer Katja Gaudard als liebenswert-schrullige Frau Gott im aufgeplusterten "Schwanensee"-Kostüm; Ina Fritsche, die nicht nur mit eleganter, kühler Erotik Frau Tod verkörpert, sondern auch als überspannte Zeitschriften-Journalistin Helga (Helges Mutter) und dem Tod sehr nahe Krankenschwester zeigen kann, was sie mimisch alles auf dem Kasten hat - und als Reh, wenn Anne Klöcker mal nicht mit ihrem pantoffelheldenhaften Tapir (Gunnar Kolb) kuschelnd Möhren und Froschlaichkräcker knabbert sondern als Mädchen Tina bedeutungsschwangere Leerformeln spricht. Leif Stawski schlüpft mühelos aus dem versifften Unterhemd des Schrebergartenmachos Helmut (Helges Vater) in das Fell des charakterlich ähnlich strukturierten Schnapphamsters und macht als Tinas Angst ebenfalls schleimig gute Figur - und Axel Brauch ist Helge. Der - ab und zu killende - Prügelknabe des Lebens. Das Mittelmaß an sich. Kein Wunder, dass seine Angst ab und an wie Dieter Bohlen aussieht.

    Wenn's den Tieren zu sehr menschelt, spulen sie das Ganze vor und nutzen die Pausen, um als Werbeträger mit vorzüglicher musikalischer Unterstützung durch "Die Brosowskeys" (Wolfgang Rosner am Schlagzeug, Klaus Brosowski am Piano und Friedrich Kienle am Bass) selbst ins Rampenlicht zu treten. Dieses Licht erhellt in "Helges Leben" mit satirischer Schärfe die gallenbitter tiefe Nacht oberflächlichen Dahinvegetierens, die sich unter dem lustigen Schein der Show ausbreitet. Bei näherem Hinsehen - das lohnt sich - entpuppt sich das Berg-Stück als Anti-"Jedermann" medialen Lebens aus dritter Hand. Frau Tod ruft Helge - aber dem weint niemand eine Träne nach. "Oh what a wonderful world." Die nächste Aufführung ist am Mittwoch, 12. Mai, 20 Uhr, im Studio. Unbedingt hingehen.
    (Wolfgang Nussbaumer)