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"Warum guckst Du mich nicht an?"
Foto Tötet die Liebenden

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TÖTET DIE LIEBENDEN
von Xavier Durringer

Schwäbische Post, 7.10.2002
Paare und Passanten im Schauraum der Gefühle
Winfried Tobias bringt in seiner Inszenierung von "Tötet die Liebenden" im ehemaligen Möbelhaus Krauss in Aalen Fiktion und Realität bezwingend zur Deckung

  • "Am Anfang ist alles schwarz." Zwei Frauen, zwei Männer. Sie stehen mit dem Rücken zum Publikum im abgedunkelten Raum und blicken auf die mit Kreide bedeckten Schaufensterscheiben des ehemaligen Möbelhauses Krauss, die drinnen und draussen trennen. Wird am Ende dieser Premiere von "Tötet die Liebenden" Licht im Dunkel sein?

    Der Text des französischen Regisseurs und Bühnen- und Filmautors Xavier Durringer macht sich nicht an bestimmten Personen fest; er hat keine dramatische Zuspitzung, hält keine Lösung vor, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Durringer liefert Momentaufnahmen von Befindlichkeiten, vom Lügen und Betrügen, von Wünschen und Frustrationen, von Begehren und Enttäuschung, vom Risiko der Liebe - von dem, was sein könnte und dem, was ist zwischen Paaren. Er wühlt also einmal mehr in der Beziehungskiste und fördert zutage, was nicht neu ist. Insofern ohne Belang.

    Pseudophilosophisches Geblubber kreuzt sich mit stellenweise bizarrer Poesie und messerscharfen Skalpellsätzen, die ins Dickicht der Gefühlsverschleierungschneiden. Ein Konglomerat von Kitsch und Kunst, von dunklen Gedanken ("des idees noires" steht programmatisch in die Kreide geschrieben) über dessen Wohl und Wehe alleine schlüssige Bilder und überzeugende Schauspieler entscheiden.

    Weil an beidem kein Mangel war, haben sich der inszenierende Dramaturg des neuen Teams am Theater der Stadt Aalen, Winfried Tobias, Max Julian Otto, der zusammen mit Ramona Taterra den Raum in die Zeit öffnet und die vier Protagonisten Wenzel Banneyer, Ina Fritsche, Friederike von Imhoff und Leif Stawski den minutenlangen anerkennenden Beifall der 50 eng gequetschten Zaungäste auf der langen Publikumsbank redlich verdient.

    In dem langgestreckten Schaufensterraum im Nördlichen Stadtgraben hat Winfried Tobias den idealen Ort gerunden, um die Botschaft des Textes sinnlich erfahrbar zu machen. Mittendrin im Leben der Stadt wie die Menschen auf der Bühne. Die stellen im Schaufenster ihr Inneres aus, wie Möbel. So beziehungslos wie diese hier früher zu einander standen, optisch verbunden nur durch das Arrangement, prasseln die Monologe auf das Publikum herab. Denn in den Dialog treten die Paare eigentlich nie. Ihr Ansprechpartner und Opfer ist immer auch das Publikum; anderthalb Meter trennen es von der Fiktion. Und auch diese Distanz wird überwunden; da kommen ihnen die Vier hautnah in einem kakophonischen Fluchtszenario; ausgelöst durch Männer in ABC-Schutzanzügen, die mit Dampfstrahlern die Kreide von den Scheiben schwemmen.

    Die Aktion macht praktischen Sinn. Jetzt endlich öffnet sich der Blick ungehindert in die Wirklichkeit der nächtlichen Stadt. Autoscheinwerfer huschen durch die Monologe. Fiktion und Realität fließen unmerklich ineinander. Verstärkt durch bedrängende Videobilder aus dem Nirwana des leer geräumten Möbelhauses. Kein Ort für Liebe, kein Ort, um behaust zu sein. Dann gleich hinaus auf die Straße. Ein Auto mit Ulmer Nummer hält. Vermutlich fragt der Fahrer Wenzel Banneyer nach dem Weg. So sieht es zumindest von innen aus. Diesseits der Schaufenster. Ein Paar streitet sich. Er drückt sie auf die Motorhaube eines geparkten Autos. Nächtlicher Alltag. Wenn wir nicht wüssten, dass hier gerade Theater stattfindet...

    Die Passanten draußen wissen es nicht. Der Typ mit dem Handy, der sich ohne es zu ahnen selbst inszeniert, wird Teil des Geschehens. Ein Auffahrunfall liegt in der Luft. Das Publikum befindet sich plötzlich in der Rolle desjenigen, der durch die versteckte Kamera blickt. Als Voyeur seiner selbst. Denn säße man nicht in diesem Schauschlauch, würde man vielleicht draußen vorbei fahren oder flanieren, scherzend, streitend, verwundert sich fragen, warum der Typ mit dem Blumenstrauß die Fassade zu seiner Angebeteten hinauf heult wie ein läufiger Hund. Trefflich schnappt die zeitgeistige Fiktionsfalle zu. In die uns eine kluge Inszenierung und mit guten Stimmen hervorragend sprechende und facettenreich spielende Schauspielerinnen und Schauspieler gelockt haben.
    (Wolfgang Nussbaumer)


Aalener Nachrichten, 7.10.2002
Befreiung von Zwängen und Klarheit des Blicks

  • Eingesperrtsein führt zu Aggressionen, fehlende Verbindungen führen zu Orientierungslosigkeit und wenn gar der Blick nach draußen versperrt ist, gerät das Auge in Panik. Bei der Premiere des Stücks "Tötet die Liebenden" erlebten die Zuschauer eine völlig neue Perspektive.

    Der Ort: Die Schaufensterfront des ehemaligen Möbelhauses Krauss im Nördlichen Stadtgraben. Er mutet in der abendlichen Dunkelheit und bei spärlicher Beleuchtung gespenstisch an. Kurz vor Beginn werden die Zuschauer in den mittels eines Gebläses kurzfristig beheizten Ausstellungsraum eingelassen und nehmen in einer Reihe direkt gegenüber der mit weißer Farbe bemalten Schaufensterfront Platz. "Tötet die Liebenden" von Xavier Durringer beginnt.

    Wenzel Banneyer, Ina Fritsche, Friederike von Imhoff und Leif Stawski vom Ensemble des Theaters der Stadt Aalen erscheinen als Silhouetten, heben sich gegen den vorüberflutenden Verkehr ab, erzählen von Sehnsüchten, von der alltäglichen Suche, von häuslichen Szenen, von Ängsten, Verzweiflung und Träumen - nicht von Liebe und Geborgenheit, von Harmonie oder Zufriedenheit.

    Diese Gefühle kommen bei ihnen nicht auf. Auch dann nicht, als (von außen) das Eingesperrtsein aufgehoben und die Farbschicht Stück für Stück durch Zeichnungen und Schriften aufgebrochen wird, als man (endlich) den Blick frei bekommt für die vorbeifahrenden Autos oder die zufällig heranspazierenden Fußgänger, die sowohl von den Schauspielern als auch von ihren Handlungen überrascht werden.

    Es ergeben sich eigenartige, von Regisseur Winfried Tobias so gewollte Begegnungen. Nicht nur, dass der Zuschauer durch das Schaufenster das Spiel auf Straße und Gehweg beobachtet, nicht nur, dass der Besucher der Vorstellung zum Betrachteten wird, er erlebt vielmehr die Befreiung von Zwängen, von Blicken unmittelbar, er genießt die bisher fehlende Distanz, war er doch vorher oftmals in die (spärliche) Handlung einbezogen worden, er atmet schließlich befreit auf, als mit Hochdruckreiniger und Wischer bewaffnete Maskierte - welch ein Anblick für den zufällig Vorbeifahrenden mitten in der Nacht - für Klarheit des Blickes sorgen.

    Befreit wirken am Ende Spieler und Zuschauer. Beifall brandet auf, den Ina Fritsche, Friederike von Imhoff, Wenzel Banneyer und Leif Stawski gleichermaßen (mehrfach) zusammen mit Regisseur Winfried Tobias, sowie den Ausstattern Max Julian Otto und Ramona Taterra bei dieser zweiten Premiere des neuen Aalener Ensembles sichtlich genießen.
    (VO)