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Im Allgemeinen ist alles sehr eigenartig.
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GLEICHZEITIG
von Jewgeni Grischkowez

Theater der Zeit, 04/2003
Gedanken-Jazz
"Gleichzeitig" von Jewgeni Grischkowez (Regie Ralf Siebelt)

  • Auf der rauen Ostalb, fernab der Metropolen, an der Peripherie Baden-Württembergs zeigt man Weitblick: Im kleinsten Stadttheater der Republik - und diesen Titel trägt man in einer Mischung aus Stolz und Trotz - pflegt man zeitgenössisches Theater internationalen Zuschnitts. Nach elf Gründungs- und Konsolidierungsjahren in Aalen unter Intendant Udo Schoen hat mit dieser Saison eine neue, junge Crew unter der Leitung von Simone Sterr angefangen. Sterr, vorher Leiterin des Kinder- und Jugendtheaters Würzburg und Regisseurin in Gießen, lässt fast durchweg aktuelle europäische Texte spielen - von Enda Walsh, Xavier Durringer, Oliver Bukowski und Kristo Sagor. Mutig, aber wahr: Das wackere Aalener Team bietet einen Spielplan, der manch größerem und besser ausgestattetem Stadttheater jederzeit zur Ehre gereichen würde. Intendantin Simone Sterr, die über ein Ensemble von sechs Schauspielern gebietet, hat auch ein Ohr fürs neue osteuropäische Theater: Und mit Jewgeni Grischkowez' "Gleichzeitig" (Abdruck TdZ 01/03) gelang es sogar, eine deutschsprachige Erstaufführung an Land zu ziehen. Der 35 jährige Russe aus Kemerowo (Sibirien) lebt in Kaliningrad und ist - nach "Wie ich einen Hund gegessen habe" (1998) und "Die Stadt" (2001) - längst vom Geheimtipp ("Erfinder der russischen Performance") zum Festival-Liebling avanciert (Berliner Schaubühne, Bonner Biennale, Wiener Festwochen). Sein wunderlicher Monolog "Gleichzeitig" (1999), so scheint's, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, dreht sich um Gott und die Welt - ein Parlando im schillernden Zwischenreich von Banalität und Philosophie. Es geht ums Befremdetsein beim Anblick der eigenen Person in einem aufgezeichneten Video. Ums Erstaunen angesichts der Komplexität der menschlichen Anatomie - wo ist das Ich? Um die Imagination dessen, was simultan so auf der Welt in jedem Augenblick geschieht - Kriege, kleine Ev'ryday-Tragödien, große Glückserwartungen. Vielleicht geht es um Identitätsverlust - angesichts der globalen Medien-, Informations- und Mobilitäts-Moderne. Doch das wäre aus Grischkowez' Sicht viel zu theoretisch und glatt formuliert. Denn sein "Erzähler" plaudert in "Gleichzeitig" (1999) wie aus dem Stegreif daher - in freier, assoziativ schweifender Rede.

    Leif Stawski ist in Aalen der monologische Erzähler - ein junger Mann mit Fliege, der uns quasi ranwinkt und ins Vertrauen zieht. Wie fein er sich neulich für eine Party gemacht habe, und dann, später auf einem Video von dieser Party, wie "furchtbar" er sich fand - "ungeschickte Bewegungen, diese Grimassen - und die Lache!" Wie er daran denkt, dass gerade jetzt "ständig Flugzeuge im Himmel herumfliegen - Tausende Menschen - auf Klos in elftausend Meter Höhe". Bei Regisseur Ralf Siebelt agiert Leif Stawskis Erzähler getreu der Grischkowez-Anweisung in einem fadenumspannten Boxring: ein Erkenntnis-Kämpfer, der ständig an die Grenzen seines Wissens stößt. Ein mitteilungsbedürftiger Ich-Sucher, der sich bis auf die Unterhose entblößt. Ein staunender Neurotiker, der in der alltäglichsten Bagatelle das große Absurde entdeckt: "Wozu erzähl ich das alles?" Aber auch: ein trauriger Clown, der all diese verrückten Gleichzeitigkeiten erspüren will, mit einem kleinen Ventilator eine am Bühnenhimmel aufgehängte Papierflugzeug-Flotte mächtig in Bewegung bringt und mit Ledermütze nebst Pilotenbrille einen Flug simuliert - und dabei einen unbeholfenen, bizarren Traumtanz vollführt. Karges Monolog-Theater im Halbdunkel. Regisseur Ralf Siebelt hat den Text leicht gerafft, Schwachstellen des Originals über Elvis und Marilyn Monroe behutsam gekürzt. Ein paar Mal stoppt Siebelt den Endlos-Wortschwall, lässt den Protagonisten minutenlang schweigen - zu georgischen Chorklängen aus dem Off. Doch ansonsten ist Leif Stawski in dieser deutschsprachigen Erstaufführung meist ein getriebener, ein angestrengter, ein gehetzter, ein tragikomisch zweifelnder Erkenntnis-Desperado, der vom Chaos der alltäglichen Widersprüche hoffnungslos überflutet wird - ein Gedanken-Freejazzer, ein staunender Frager in Permanenz. Ob Grischkowez' Monolog auch in einem leiseren, cooleren, anekdotischeren Plausch-Tonfall funktioniert, werden künftige Inszenierungen ausloten. Wie auch immer, "ausgerechnet Aalen" könnte unter Intendantin Simone Sterr zum Kurzslogan werden: Das kleinste Theater der Republik zeigt sich mit einem ambitioniert aktuellen Spielplan als Ort mit europäischem Weitblick.
    (Otto Paul Burkhardt)


Aalener Nachrichten, 27.01.2003
Versackt in den Tiefen des Gehirns

  • Ein Ghetto-Blaster, ein Kartenständer, ein Stuhl und ein Ventilator: Das genügt als Kulisse, um sich von Jewgeni Grischkowez die Welt erklären zu lassen. Am Freitag feierte sein Monospektakel "Gleichzeitig" als deutsche Erstaufführung Premiere beim Stadttheater im Studio im Alten Rathaus. Für Darsteller Leif Stawski ein hartes Stück Arbeit.

    "Nun hab' ich Ihnen all das erzählt", lässt der junge russische Dramatiker Jewgeni Grischkowez seinen Monolog schließlich auslaufen, "und habe begriffen, dass man es so nicht rüber bringen kann, was alles in einer Sekunde irgendwie" Ja, es ist tatsächlich nicht einfach, die ganze Welt in nur einer Sekunde zu erklären, "weil man gleichzeitig so viel sagen müsste".

    "Gleichzeitig" nimmt uns mit auf einen waghalsigen Husarenritt, vorbei an Eisenbahnknotenpunkten und georgischen Chören, Holzschwertern und Fliegerträumen, Körpergeräuschen und anatomischen Erkenntnissen, eine schräge Geschichte vom ständigen Wissen und von seltenen Gefühlen. Kann man ein neues Jahrhundert fühlen? Man kann. Und das alles gleichzeitig.

    "Irgendwas passiert da in mir drin, und ich kann es nicht steuern", sagt Stawski mit weinerlicher Miene und versackt schließlich in den Tiefen des Gehirns. Und von dort kommen messerscharfe Zitate: "Ich weiß, dass mein Magen und mein Darm nicht ich sind, aber wer bin dann ich?" Gute Frage, nächste Frage.

    Grischkowez, 1967 in Westsibirien geboren, macht es sich, dem Darsteller und dem Publikum nicht leicht, leiht sich von Tschechow das Sentiment, wildert in Becketts Fundus der Absurditäten, lässt so im Monolog einen Don Quijote entstehen, der allein gegen die Windmühlen seiner inneren Zweifel ankämpft, gegen alle gleichzeitig.

    Auf der Bühne entstanden seine Monospektakel, vielmal gespielt, bis sie endlich niedergeschrieben wurden. Lange, schräge, komische, tief- und hintergründige Monologe mit dem Publikum. Und sowas passt ganz wunderbar in die intime Atmosphäre des schwarz abgehängten Studios.

    Nach gut einer halben Stunde nimmt das Stück, nachdem erst einmal die wichtigen Eckdaten abgesteckt sind, an Fahrt auf, kriegt Eigendynamik. Darsteller Leif Stawski tut - unter der Regie von Ralf Siebelt - gut daran, nicht zu verschwenderisch mit den schauspielerischen Mitteln umzugehen. "Gleichzeitig" ist - bei allem philosophischem Tiefgang - zwar ein durchaus lustiges Stück, aber kein Klamauk, es verlangt höchste Konzentration.

    "Glücklich zu sein, ist eine ernsthafte Arbeit, eine Arbeit der Seele", hat Grischkowez mal in seinem Interview erklärt. Auch sein Stück "Gleichzeitig" ist Arbeit. Keine leichte, aber eine äußerst unterhaltsame Kost, Arbeit in den Tiefen des Gehirns. (Ansgar König)


Schwäbische Post, 27.01.2003
Das Ich und andere Merkwürdigkeiten
Premiere und deutsche Erstaufführung von “Gleichzeitig" im Studio im Alten Rathaus

  • Zwischen philosophischen Fragen und alltäglichen Nichtigkeiten bewegt sich die neue Inszenierung des Theaters der Stadt Aalen, die am Freitag im Studio im Alten Rathaus Premiere hatte. “Gleichzeitig" von Jewgeni Grischkowez fordert zum Lachen und zum Nachdenken auf. Das Ein-Mann-Stück entschuldigt das peinliche Blubbern im Magen und ist genauso einleuchtend wie schräg.

    Da steht er. In weißen Unterhosen, Kniestrümpfen und die Schuhe noch an. Sein Zeigefinger wandert auf der Anatomie-Tafel auf und ab. Das ist also der Mensch. Auch er. Aber er ist es eben doch nicht. Schauspieler Leif Stawski monologisiert in “Gleichzeitig" von Jewgeni Grischkowez über eine jener nicht zu beantwortenden Fragen, die die Philosophie ausmacht: Wer bin ich? So hochtrabend diese Frage ist, so spielerisch geht das Stück des grandiosen russischen Autoren damit um. Und so hat es auch Regisseur Ralf Siebelt inszeniert. “Die Tatsache, dass ich blinzeln muss ist schrecklich", teilt Leif Stawski seinem Publikum mit, läuft die Stuhlreihen ab und blinzelt es an. Er spricht es direkt an und echauffiert sich über sein Blubbern in Magen. “Das bin ich nicht", findet er und reiht Beispiel an Beispiel - den Schluckauf an das verstopftes Nasenloch. Die Beobachtung, dass man sich auf Hochzeitvideos nicht erkennt, erntet laute Lacher im Publikum. Der 75-minütige Monolog bewegt sich munter zwischen der philosophischen Frage nach dem Individuum und lustigen Alltagsbetrachtungen und Nichtigkeiten, wechselt von Traum in die Realität, ist mal absurd, mal schräg aber erstaunlich einleuchtend. Eine Antwort gibt es in der Ein-Mann-Show nicht, die in Aalen zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne zu sehen ist. Die Komplexität der Welt lässt sich nicht erfassen. Es passieren so viele Dinge gleichzeitig: Züge fahren zu ihrem Knotenpunkt, Flugzeuge fliegen, die Leber filtert Giftstoffe, in Georgien singen Chöre und Reliquien aus der Kindheit tauchen auf. Bei all den Dingen die sich gleichzeitig ereignen und die den Protagonisten einfach nicht loslassen wollen, fängt er an, sich zu verheddern, die Arme kreisen wild, die Sprache ist nicht schnell genug.

    “Nun hab ich all das erzahlt und gemerkt, dass man es noch nicht rüberbringen kann." Doch der Held scheitert nicht. Eine Pause von all den Fragen findet der suchende Protagonist in Jewgeni Grischkowez Stück, sobald er glücklich ist. Zum Beispiel, wenn er im Kopf singt. Das gelingt ihm. Und so schmettert er mit einer Frauenstimme “Darling, Darling" und tanzt zum Licht der Discokugel. Oder in einem jener A-ha-Momente, in denen einem nicht nur klar ist, wo die vergessene Tasche steht, sondern alles andere auch.

    Das clevere Finale bringt alle Gleichzeitigkeiten, die den Protagonisten bewegen, auf den Punkt. Er beherrscht sie - wenigstens für wenige Augenblicke. So wie es Leif Stawski 75 Minuten lang tat - mit Hemd, ohne Hemd, mit oder ohne Fliegermütze. “Gleichzeitig" ist eine überzeugende Inszenierung über die Merkwürdigkeiten der Welt.
    (Anja Rettenmaier)