"Eine Kultur wird zugrunde gehen, wenn ihr wichtigster Baustein, die Familie, entfernt wird", steht menetekelnd an den Bühnenrand geschrieben, noch bevor die Schauspieler des Theaters der Stadt zur Premiere von Gerhart Hauptmanns "Das Friedensfest" in die sterile Arena aus weißen Kacheln steigen. In dem ausgelassenen Schwimmbecken finden sie sich ein wie Fische ohne Wasser, Familienmitglieder ohne Familie.
Die Familie ist zu Beginn des Stückes längst zerbrochen. Ausgerechnet am Muster der Familie: Als Fritz Scholz öffentlich daran zweifelte, dass seine Frau der familiären Instanz einer fürsorglichen Mutter und treuliebenden Ehefrau entspreche, bezog er von seinem Sohn Wilhelm Prügel. Woraufhin beide das Haus verließen.
Die Handlung auf der Bühne setzt ein, als sich Wilhelm seiner Verlobten Ida Buchner zuliebe auf Weihnachten zuhause ankündigt. Zusammen mit ihrer Mutter Marie strebt Ida eine Versöhnung der Familie Scholz an. Für Marie Buchner ist die Familie das Glück schlechthin, das sich zudem kupplerisch anbahnen lässt. In der Rolle der Familienapologetin strahlt Andrea Bittermann die wohlige Nestwärme einer bemutternden Glucke aus, die mit der federleichten Flatterhaftigkeit ihres gestrickten Umhangs nach den Würmern im maroden Gehölz der Familie Scholz pickt. Ihr Küken, überzeugend naiv dargestellt von Anne Klöcker, erfüllt diesen kalten Raum geometrisch abgezirkelter Beziehungen so herzhaft mit ihrer ungetrübten Glückserwartung, die sich mit der Ankunft ihres Verlobten erfüllen soll, dass das Ansinnen der Versöhnung durchaus erfolgversprechend scheint.
Doch zuerst einmal erscheint völlig überraschend der Vater. Gunnar Kolb betritt als Fritz Scholz die Bühne. Seine Erscheinung lässt keinen Zweifel: Hier ist der Hausherr. Doch dieser ist saft- und kraftlos, wirkt ermattet und vom Leben erschöpft. Mit der Würde eines ergrauten Alphatierchens nimmt er später den Kniefall seines Sohnes auf und vergibt ihm die damals bezogenen Ohrfeigen.
Woraufhin der stets am Rande eines Nervenzusammenbruchs spielende Martin Eschenbach ohnmächtig wird. Darin kulminiert Eschenbachs ausdrucksstarke Darstellung eines nervösen und phlegmatischen Wilhelm, der krankhaft darauf fixiert ist, von Ida erlöst zu werden.
Seine Ohnmacht ist der flüchtige Ansatz eines retardierenden Moments: In vereinter Fürsorge werden dem Unpässlichen von den Familienmitgliedern Wasser, Mantel und Eau de Cologne gereicht. Doch die gewonnene Harmonie entgleitet sofort wieder, als Wilhelms Bruder Robert Ida düpiert, als sie ihm ihr Weihnachtsgeschenk überreicht. Es kommt zum Zank, in dem sich der Vater bis zum Infarkt ereifert. Der emotionale Ausbruch des lethargischen Mannes sammelt ein letztes Mal die gesamte Liebe eines Familienvaters. Sterbend erkennt er in seiner Familie eine Meute.
Als deren Opfer sieht sich Tochter Auguste. Die Schauspielerin Ina Fritsche knüpft neurotisierend alle Hoffnung dieser verklemmten Person an ihre Mutter, die mit den großen ängstlichen Augen Friederike von Imhoffs im schwarzen Kleid bald verbittert, bald hysterisch, und eigentlich dem Infarkt näher als ihr Mann, mit eindrucksvoll vorgetragenen Bitten um den Bestand ihrer Familie jammert - dabei allerdings erfolglos mit der schlesischen Mundart ringend.
Für sie, Minna Scholz, ist die Familie ein Organismus aus Eltern und Kindern, der in sich selbst begründet liegt: "Wir haben unsere Fehler, mein Mann und ich. Da hat sich niemand einzumischen. Am allerwenigsten der eigene Sohn!" Es bedarf keines Musters, das eine Familie zu erfüllen hätte, sie ist sich ihr eigenes Maß. Die Autonomie des familiären Organismus wird noch verstärkt durch Augustes "Wir sind uns selbst genug!"
Doch verkommt diese Aussage im zynischen Spiegel ihres Bruders Robert zum bloßen Hilferuf. Der spöttische Bonvivant mit Designerpfeife zwischen den spitzen Lippen wird abgeklärt von Wenzel Banneyer dargestellt. Mit provokativ gehobenen Brauen lässt er erkennen, dass Robert Scholz sich der Situation überlegen und der Familie enthoben fühlt. Dem Liebesglück seines Bruders mit Ida prophezeit Robert dasselbe Schicksal wie den gemeinsamen Eltern: Wieder eine Familie, die keine mehr ist. Die Glieder des Organismus sind derart zerklüftet, dass sie auch kommunikativ nicht mehr überbrückt werden können und sich auf ein bloßes "Ich versteh nicht!" reduzieren.
Aus dem Schwimmbecken der von Gitti Scherer ausgestatteten Bühne ist das verbindende und tragende Medium raus, die Handelnden sitzen auf dem Trockenen. Dabei erlöst die Weite des gekachelten Raumes ein ums andere Mal von der beklemmende Enge der familiären Drangsal. Die Wucht der Tragik in Hauptmanns Stück liegt darin, dass die Familie trotz vorhandener Liebe scheitert.
Weshalb dann? Regisseur Ralf Siebelt lässt "Das Friedensfest" mit der offenen Frage nach der Schuld enden, die im Weit der Kacheln ohne Antwort widerhallt wie das höhnische Gelächter des Zeitgeistes.
(Mark Dressler)