zurück

"Nun wankt alles!"
Foto Das Friedensfest

info | fotos | presse

DAS FRIEDENSFEST
eine Familienkatastrophe in drei Akten

Schwäbische Post, 3.12.2002
Die Kunst des Liebens lernen die nie
Das Theater der Stadt Aalen gräbt zur Weihnachtszeit mit dem hochaktuellen "Friedensfest" ein frühes Stück von Gerhart Hauptmann aus

  • Was braucht die kalte Welt? Ein Zeichen des Friedens, der Wärme - ein Licht. Einen Christbaum. Also setzt Frau Marie Buchner, der Gutmensch, das Nadelgewächs in den Eiskeller der kaputten Medizinerfamilie Scholz. Damit alles gut werde. Doch hat sie die Rechnung ohne den Autor Gerhart Hauptmann gemacht. Wie das "Friedensfest" im Chaos endet, zeigt das Theater der Stadt Aalen eindringlich im Wi.Z.

    Der Baum steht von Anfang an auf verlorenem Posten. Er kann dort keine Wurzeln schlagen. Nicht nur weil Mutter Minna Scholz im Pflanzloch den Schnaps entsorgt, um dem familiären Zwist den Treibstoff zu nehmen. Übrigens auch vergeblich. So klinisch sauber, so brutal kalt und unpersönlich wirkt dieser weiß gekachelte Raum von Gitti Scherer, ein leer gepumptes Hallenbad mit Schlachthofoption, dass von vornherein klar wird: das ist kein Überlebensraum; diese Fliesen spiegeln den inneren Zustand der Familie des Dr. med. Fritz Scholz wider. Aber sind die wirklich alle so schlimm? Sind sie nicht eher durch Erziehung verkrüppelte Seelen? Wenzel Banneyer wappnet seinen Robert konsequent und bis in die Haarspitzen motiviert mit zynischer Arroganz; seinem gebrochenen Bruder Wilhelm, der einst sich und den tyrannischen Vater aus dem Haus watschte und zurückgekehrt weder den Glauben an sich noch an die Liebe wiedergewinnt, lässt Martin Eschenbach anrührend zwischen Hoffnung und Verzweiflung taumeln (der Schauspielschüler gibt in seiner Gastrolle ein glänzendes Debüt); deren Schwester Auguste sucht in Gestalt von Ina Fritsche Zuflucht in der mit fein dosierter Häme unterfütterten Opferrolle. In diese teilt sie sich mit ihrer Mutter Minna, der Friederike von Imhoff neben einer erfrischenden Dosis Pragmatimus noch einen ziemlich unnötigen schlesischen Zungenschlag mitgibt. Zumindest in dieser doch stark an den späteren naturalistischen Hauptmann erinnernden Figur weicht Regisseur Ralf Siebelt von seinem Konzept ab, zu zeigen wie zeitlos modern der Text und die Geschichte dieses Frühwerkes sind. Ein Konzept, das in furiosen Dialogen mitunter existenzialistische Dichte und Nähe zu den großen amerikanischen Dramatikern beschwört; und dort leck schlägt, wo Hauptmann für heutiges Empfinden sülzig-gefühlig wird. Als die Marie Buchner der bis dato so resolut das Positive verkörpernden Andrea Bittermann verwirrt den Scherbenhaufen ihres familiären Rettungsversuches zusammenkehrt, steht sie plötzlich neben ihrer Rolle. Statt Charakterstudie Gestik und Gerenne. Selbst bei der Trennung von Wilhelm und Ida, für die Anne Klöcker penetrant herzensgut die reine Liebe verkörpern muss, hat man das Gefühl, dass die beiden plötzlich mit der Zunge Stroh flechten.

    Was bleibt Ida da anderes übrig, als die letzte Kerze der Hoffnung zu löschen. "Wer hat schuld?" hört man aus dem "Off" Frauenstimmen am Totenbett des Vaters klagen. Sagen wir: der Autor. Und erwähnen mit Nachdruck, dass Gunnar Kolb vor seinem Ableben als Dr. med. Fritz Scholz mit seiner umwerfenden Bühnenpräsenz für Theatermomente gesorgt hat, die allein schon dieses "Friedensfest" zum Gewinn machen. Diesen sinistren Koloss wortlos mit zwei leeren Weinflaschen in der Hand über die Fliesen schlurfen zu sehen, sagt mehr als mancher Roman über das Allzumenschliche.
    (Wolfgang Nussbaumer)


Aalener Nachrichten, 3.12.2002
"Das Friedensfest": Familiäre Drangsal in den sterilen Weiten eines leeren Beckens

  • "Eine Kultur wird zugrunde gehen, wenn ihr wichtigster Baustein, die Familie, entfernt wird", steht menetekelnd an den Bühnenrand geschrieben, noch bevor die Schauspieler des Theaters der Stadt zur Premiere von Gerhart Hauptmanns "Das Friedensfest" in die sterile Arena aus weißen Kacheln steigen. In dem ausgelassenen Schwimmbecken finden sie sich ein wie Fische ohne Wasser, Familienmitglieder ohne Familie.

    Die Familie ist zu Beginn des Stückes längst zerbrochen. Ausgerechnet am Muster der Familie: Als Fritz Scholz öffentlich daran zweifelte, dass seine Frau der familiären Instanz einer fürsorglichen Mutter und treuliebenden Ehefrau entspreche, bezog er von seinem Sohn Wilhelm Prügel. Woraufhin beide das Haus verließen.

    Die Handlung auf der Bühne setzt ein, als sich Wilhelm seiner Verlobten Ida Buchner zuliebe auf Weihnachten zuhause ankündigt. Zusammen mit ihrer Mutter Marie strebt Ida eine Versöhnung der Familie Scholz an. Für Marie Buchner ist die Familie das Glück schlechthin, das sich zudem kupplerisch anbahnen lässt. In der Rolle der Familienapologetin strahlt Andrea Bittermann die wohlige Nestwärme einer bemutternden Glucke aus, die mit der federleichten Flatterhaftigkeit ihres gestrickten Umhangs nach den Würmern im maroden Gehölz der Familie Scholz pickt. Ihr Küken, überzeugend naiv dargestellt von Anne Klöcker, erfüllt diesen kalten Raum geometrisch abgezirkelter Beziehungen so herzhaft mit ihrer ungetrübten Glückserwartung, die sich mit der Ankunft ihres Verlobten erfüllen soll, dass das Ansinnen der Versöhnung durchaus erfolgversprechend scheint.

    Doch zuerst einmal erscheint völlig überraschend der Vater. Gunnar Kolb betritt als Fritz Scholz die Bühne. Seine Erscheinung lässt keinen Zweifel: Hier ist der Hausherr. Doch dieser ist saft- und kraftlos, wirkt ermattet und vom Leben erschöpft. Mit der Würde eines ergrauten Alphatierchens nimmt er später den Kniefall seines Sohnes auf und vergibt ihm die damals bezogenen Ohrfeigen.

    Woraufhin der stets am Rande eines Nervenzusammenbruchs spielende Martin Eschenbach ohnmächtig wird. Darin kulminiert Eschenbachs ausdrucksstarke Darstellung eines nervösen und phlegmatischen Wilhelm, der krankhaft darauf fixiert ist, von Ida erlöst zu werden.

    Seine Ohnmacht ist der flüchtige Ansatz eines retardierenden Moments: In vereinter Fürsorge werden dem Unpässlichen von den Familienmitgliedern Wasser, Mantel und Eau de Cologne gereicht. Doch die gewonnene Harmonie entgleitet sofort wieder, als Wilhelms Bruder Robert Ida düpiert, als sie ihm ihr Weihnachtsgeschenk überreicht. Es kommt zum Zank, in dem sich der Vater bis zum Infarkt ereifert. Der emotionale Ausbruch des lethargischen Mannes sammelt ein letztes Mal die gesamte Liebe eines Familienvaters. Sterbend erkennt er in seiner Familie eine Meute.

    Als deren Opfer sieht sich Tochter Auguste. Die Schauspielerin Ina Fritsche knüpft neurotisierend alle Hoffnung dieser verklemmten Person an ihre Mutter, die mit den großen ängstlichen Augen Friederike von Imhoffs im schwarzen Kleid bald verbittert, bald hysterisch, und eigentlich dem Infarkt näher als ihr Mann, mit eindrucksvoll vorgetragenen Bitten um den Bestand ihrer Familie jammert - dabei allerdings erfolglos mit der schlesischen Mundart ringend.

    Für sie, Minna Scholz, ist die Familie ein Organismus aus Eltern und Kindern, der in sich selbst begründet liegt: "Wir haben unsere Fehler, mein Mann und ich. Da hat sich niemand einzumischen. Am allerwenigsten der eigene Sohn!" Es bedarf keines Musters, das eine Familie zu erfüllen hätte, sie ist sich ihr eigenes Maß. Die Autonomie des familiären Organismus wird noch verstärkt durch Augustes "Wir sind uns selbst genug!"

    Doch verkommt diese Aussage im zynischen Spiegel ihres Bruders Robert zum bloßen Hilferuf. Der spöttische Bonvivant mit Designerpfeife zwischen den spitzen Lippen wird abgeklärt von Wenzel Banneyer dargestellt. Mit provokativ gehobenen Brauen lässt er erkennen, dass Robert Scholz sich der Situation überlegen und der Familie enthoben fühlt. Dem Liebesglück seines Bruders mit Ida prophezeit Robert dasselbe Schicksal wie den gemeinsamen Eltern: Wieder eine Familie, die keine mehr ist. Die Glieder des Organismus sind derart zerklüftet, dass sie auch kommunikativ nicht mehr überbrückt werden können und sich auf ein bloßes "Ich versteh nicht!" reduzieren.

    Aus dem Schwimmbecken der von Gitti Scherer ausgestatteten Bühne ist das verbindende und tragende Medium raus, die Handelnden sitzen auf dem Trockenen. Dabei erlöst die Weite des gekachelten Raumes ein ums andere Mal von der beklemmende Enge der familiären Drangsal. Die Wucht der Tragik in Hauptmanns Stück liegt darin, dass die Familie trotz vorhandener Liebe scheitert.

    Weshalb dann? Regisseur Ralf Siebelt lässt "Das Friedensfest" mit der offenen Frage nach der Schuld enden, die im Weit der Kacheln ohne Antwort widerhallt wie das höhnische Gelächter des Zeitgeistes.
    (Mark Dressler)