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"Du bist nicht mein Vater."
Foto Fremdeln

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FREMDELN
Ein Jugendstück. Auch für Erwachsene.

Schwäbische Post, 17.02.2003
"Fremdeln" Das Puzzle der Gefühle geht nicht auf
Im Studio im Alten Rathaus erlebt der junge Autor Kristo Sagor eine überzeugende Premiere seines Stücks

  • Mit ihrem großen schauspielerischen Potenzial hat die kleinste kommunale Bühne der Republik Kristo Sagors familiärem Minidrama "Fremdeln", das bisher nur in Bremen als Improvisationstheater erprobt worden ist, als abgeschlossenem Stück zu einem respektablen Einstand auf den Brettern, die die Welt bedeuten verholfen. Sowohl die Jugendlichen als auch die Erwachsenen, die dicht gedrängt die Premiere am Samstagabend im Studio des Aalener Theaters verfolgten, fanden sich Ernst genommen. Und der erst 26 Jahre alte Autor sah's mit Freuden. Mehr kann man nicht erwarten.

    Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn Sagors für Menschen ab 14 gedachtes Stück um eine so genannte "Patchworkfamilie", die sich da unter für alle Beteiligten neuen Parametern zusammenraufen soll, kann gnadenlos ins Auge gehen. Wie leicht können die Frau und der Mann, die sich in der neuen Beziehung um einander bemühen, vom schmalen Grat der Kunst in den Kitsch der banalen Lore-Roman-Geschwätzigkeit schliddern. Wie leicht kann der von brennender Neugier befeuerte Zweikampf ihrer Kinder, eines 14-jährigen, autistische Züge tragenden Jungen und einer rotzig-frechen 13-jährigen Göre mit dem in diesem Alter besonders ausgeprägten Talent, die Welt in ihrem Innersten erklären zu können, zur verlogenen Anbiederung an die jugendliche Klientel geraten. Nichts davon. Alle Klippen umschifft, alle Hürden gemeistert.
    Die Intendantin Simone Sterr hat ihr Quartett bis ins kleinste gestische Detail hinein so exakt "gebrieft", dass die 5. Person, die durch ihre Abwesenheit das ganze dramatische Geschehen erst in immer stärker werdende Bewegung versetzt, nachgerade plastische Gestalt erhält. Svantje heißt sie, hat ihren 18. Geburtstag mit einer offensichtlich nur halbwegs rauschenden Party in Mutter Doris' Wohnung gefeiert - und sich anschließend mit einigen Klamotten und ohne "Tschüss" zu sagen vom Acker gemacht.
    Warum? Und wohin? Zunächst versucht Doris den Schein zu wahren, macht einen auf Familienleben "as usual". Doch in jeder Geste von Ina Fritsche spürt man, dass es unter der Oberfläche hektischer Beflissenheit gewaltig brodeln muss. Wie ein Hammerschlag zerstört Sohn Mareks (Gunnar Kolb) mit krampfenden Händen unterstrichene Frage das krampfhaft beschworene Idyll: "Wo ist Svantje?" Die große Schwester des 14-jährigen. Die sich um ihn so liebevoll gekümmert hat, als er nach einem Autounfall, bei dem sein innig geliebter Vater Bernd ums Leben gekommen ist, auf Leben und Tod im Krankenhaus lag. Ihm geholfen hat, die Sprache wieder zu finden.
    Wo ist Svantje? Für den redlich um vertrauensvolle Zuneigung bemühten Holger des Wenzel Banneyer, der mit seiner Tochter Nele bei Doris eingezogen ist, scheint der Fall klar. Svantje brauchte Freiheit in dieser neuen komplexen familiären Situation. Und dem am liebsten in der Geborgenheit der Wohnung puzzelnden Marek rät er auch im Brustton der Überzeugung "mal ab und zu rauszugehen". Denn: "Die Luft draußen im Leben ist großartig".
    Der falsche Satz zum falschen Zeitpunkt. Ist er nicht selbst draußen auf die Schnauze gefallen? Und könnte es nicht sein, dass er Marek rausschickt, weil er dessen Mutter ganz für sich haben will? Wie ist das mit dem Vertrauen als Basis aller Liebe? Und dann rückt Doris von Nele provoziert noch damit heraus, dass sie eine Mär in die Welt gesetzt hat. Dass ihr Mann Bernd gar nicht tot ist, sondern wegen seiner Schuldgefühle seine Familie verlassen hat.
    Während sich die Erwachsenen mit aus bestem Wollen geborenen Lug und Trug auseinander leben, raufen sich der Klops Marek, dem der Autor in seinen Rückblenden so wundervoll krude Poesie in den Mund legt - (und Sterrs Regie in seine Hände, wenn er seiner Mutter in einer Geste unendlich bittender Zärtlichkeit eine seiner geliebten Mützen schützend über den Kopf stülpt) - und die biestig-kesse Nele der drahtigen Barbara Brandhuber erfrischend natürlich und ganz selbstverständlich zusammen. Zuerst fetzen sie sich und dann küssen sie sich. Und in dieser geschlechtlichen Erkundung ist keine Spur von falschem Zungenschlag.
    Letztendlich erweist sich Kristo Sagors mit kriminalistischem Touch gewürztes Beziehungsdrama als ein auf 5 Tage verteiltes Puzzle der Gefühle, der falschen und der echten. Was passt zusammen? Die Ausstatterin Marion Eiselé hat ihren Protagonisten zur symbolischen Beantwortung dieser Frage 6 Sitzelemente zur Verfügung gestellt, die sie nach Bedarf und um neue Räume zu schaffen verschieben können. Und für jeden neuen Tag ohne Svantje leuchtet hinter den Plastiknoppenfolien an den Zuschauern und Akteure umschließenden Studiowänden ein Lichtfenster auf. Öffnet sich das 5. nach draußen, zur Freiheit, zur Hoffnung? Nur so viel sei verraten. Der überraschende Schluss erklärt die 5 Tage im Nachhinein dramatisch raffiniert als Zeit der Prüfung und entlässt die Zuschauerinnen und Zuschauer mit der Erkenntnis, dass die Probleme jetzt eigentlich erst anfangen. Über die Lösungsmöglichkeiten kann jeder selbst sinnieren.
    (Wolfgang Nussbaumer)


Aalener Nachrichten, 20.02.2003
Kein Student, der schreibt, sondern ein Autor, der studiert

  • Erfolgsautor Kristo Sagor war zu Gast beim Theater der Stadt Aalen, um sich sein Stück "Fremdeln" anzuschauen. Das Aalener Theater ist die erste Bühne, die seinen Text nachspielt. Fazit: Jugend- und Erwachsenentheater vom Feinsten.

    Unterschiedlichste Familienkonstellationen sind bekannt. Die Patchwork-Familie ist eine solche. Neuer Partner trifft auf schon vorhandene Kinder und bringt seine eigenen Sprösslinge auch noch mit in das neue Familienboot. Der 26-jährige Sagor hat daraus eine blicktiefe Familiengeschichte gemacht. Sensibel, witzig und außerordentlich authentisch begibt sich der Autor auf die Suche nach Gefühlen, Zugehörigkeit und der Zärtlichkeit.

    Der Stoff fasziniert und besticht durch seine einzigartige Ehrlichkeit. So mancher jugendliche Besucher hielt den Gedanken für naheliegend, dass der Autor eigene, schmerzliche "Patchwork-Erlebnisse" in seinem Stück verarbeitet habe. Dem ist laut Sagor nicht so. Seine eigene Geschichte ist die eines Einzelkindes und dessen beiden Elterteilen, "ganz normal", so Sagor.

    Für sein Alter hat der Hausautor des Bremer Theaters schon viele Stationen eines erfolgreichen Dramatikerlebens durchgemacht. Pläne hat er jedoch immer noch. "Ich habe den Traum, Romane zu schreiben", sagte Sagor den Besuchern im Aalener Theater. Sagor: "Mit 15 Jahren fing ich an zu schreiben. Seit drei Jahren bin ich kein Student mehr, der schreibt, sondern ein Autor, der studiert." Sein Studium der deutschen Literatur, Linguistik und der Theaterwissenschaften hat er erstmal auf Eis gelegt.

    Simone Sterr, Intendantin des Aalener Theaters, wurde beim Autorentreffen in Frankfurt auf Sagor aufmerksam. Sterr entschied sich für sein Theaterstück "Fremdeln". Das Textbuch wurde übernommen und inszeniert. Natürlich gab es einige Unterschiede im Vergleich zur Aufführung im Bremen. Dort sah das Publikum den Grundriss der Wohnung mit sechs Zimmern, während man in Aalen kein sogenanntes "Puppenhaus" wollte.

    "Wir dachten über eine Simultanlösung nach, wie Ecken und Zimmer", so die Intendantin. Man entschied sich schließlich für eine andere Version. Szene und dann wieder der Schnitt. Familienzusammenhänge wurden reduziert . "Wer gerade etwas zu sagen hat und dran ist, der steht vorne", so Sterr. Parallelsituationen sind in der Aalener Inszenierung nicht notwendig.

    Svantje, das verschwundene Mädchen im Stück, wurde erfolgreich mit-inszeniert, obwohl sie im Stück gar nicht auftaucht. Sterr schuf Zeitfenster. Leuchtrahmen, aus denen die Hauptakteure in die Welt schauen sollen. Ein Zeichen dafür, dass die Zeit abläuft. Die Fenster sind der einzige Weg nach draußen. "Wo ist Svantje?", diese Frage wurde erfolgreich von der Inszenierung beantwortet.
    (Stefanie Wagenblast)