LACHEN
DER MENSCHENFEIND
von Molière
Schwäbische Post, 09.05.2005
Abgesang auf Kohlhaas der Rechtschaffenheit
Simone Sterr kann sich bei ihrer lebensklugen Inszenierung der Molière-Komödie "Der Menschenfeind" auf ein
brillantes Ensemble verlassen
-
Abgründe tun sich auf. Flammen züngeln. Dann beruhigen sich die Wasser, die Schluchten schließen sich. Der Darth Vader der
unerbittlichen Rechtschaffenheit zieht sich in sich selbst zurück - und die Party geht weiter, als ob nichts gewesen war.
Sanft wiegen sich die Körper und die Gesichter strahlen Glück: ein Reflex von Simone Sterrs Abschiedsinszenierung am
Theater der Stadt Aalen: "Der Menschenfeind".
Mit der virtuosen Komödie von Molière hat die Intendantin nahtlos an ihre andere Klassikerinszenierung angeknüpft, an den
"Clavigo" des jungen Goethe. Dort wird das Spiel der gesellschaftlichen Konventionen und Rankünen mit tödlichem Ernst
betrieben, Liebe zählt nicht, Karriere alles. Ohne Effekthascherei wurde die zeitlose Thematik im klassischen Ton im Heute
verhandelt. Molière diskutiert die Chose spielerisch durch, konsequent zwar, aber nicht tödlich. Simone Sterr versammelt
ihr Personal dazu zu einer zeitgemäßen Poolparty.
Ein quadratisches Becken bildet den Mittelpunkt von Jürgen Höths futuristischem Bühnenmöbel, ein schwarzer surrealer
Raumkreuzer, gespeist aus den Phantasmagorien eines Dali oder Max Ernst. Die Kunstwelt aus Rundem und Geradem, in der wie
schon im Looser-Krimi "Nur für Erwachsene" nichts im Lot ist, reflektiert formal die kunstvoll-künstliche Sprache der
rhythmisch ausgefeilten Übersetzung von Simon Werle. Trotzdem sieht das Publikum im Wi.Z keine künstlich-kühle
Klassikeradaption, sondern erlebt lebenspralles Theater.
Sterr stellt kein krudes Typenkabinett vor, sondern legt die artifiziellen Verse Menschen aus Fleisch und Blut in den Mund.
Und ihr Personal bringt diese poetischen Dialoge vor Spiellaune sprühend selbst in extremster Körperlage textsicher zum
Funkeln. Der champagnergespeiste Pool in Celimènes Haus wird zum brodelnden Topf einer Alchimistenküche. Mittendrin als
kolossaler Ritter mit der traurigen Gestalt der Alceste des brillanten Gunnar Kolb. Der Ekel an dieser Welt, in der
vermeintlich nur Schein zählt und Heuchelei die gängige Münze ist, dringt ihm aus jeder Faser, schwärzt ihm den Blick,
zieht ihm an den Mundwinkeln - der Erzfeind des Lustgewinns, der Trauerkoloss im Container. Dummerweise meint er dessen
Chefin zu lieben, der Anne Klöcker verheißungsvoll attraktive Gestalt und Verstellkunst gibt. "Schön - toll - bis später"
herzt sie ins Handy im Rhythmus der modernen Heuchelzeit.
Wenig später sind alle da: Philinte, Alcestes Begleiter, den Christian Sunkel mit nonchalanter Eleganz als überzeugenden
Verfechter des Laissez-faire zeichnet; der Möchtegernpoet Oronte des Wenzel Banneyer, dem der akkurat gebundene
Krawattenknoten vor Zorn bebt, nachdem ihn Alceste abgemeiert hat; die Edelleute Clitandre (Axel Brauch) und Acaste (Leif
Stawski) als eher liebenswerte Prototypen einer Spaßgesellschaft; die tugendhaft-bigotte Arsinoé der Ina Fritsche, der es
tatsächlich gelingt, einmal mit zwei ganz nackten Männern unter einer Decke zu stecken (indem sie deren Blößen nach dem
Bad im Pool verhüllt!); und die Eliante der Katja Bramm als personifizierte Kompromissformel der beiden polaren
Frauengestalten.
Kein leichtes Los, sie muss viel Champagner trinken, bis sie ultimativ in Philintes Arme sinkt. Der hat zu diesem
Zeitpunkt die kokette Celimène ebenso für sich abgeschrieben, wie die andern Galane, denen sie brieflich und verbal Hörner
aufgesetzt hat. Nur der Michael Kohlhaas des gesellschaftlichen Ränkespiels, Alceste, würde sie mitnehmen in die Wüste der
reinen Liebe, wo die Gattung Mensch außen vorbleibt. Aber genau davor hat sie Manschetten. In der Wüste gerät leicht Sand
ins Getriebe. Und so gesellt sie sich zu den anderen in den Cyberspace im Bühnenhintergrund, wo diese sich schon
traumverloren wiegen. Während Alceste sich selbst genügt.
Dort ist er mit sich im Reinen. Ab durch die Seite. Kein Happy End; nur ein vernünftiger Schluss als Quintessenz von
Simone Sterrs kluger Interpretation: Leben und leben lassen als Überlebensstrategie in einer globalen Welt, in der sich
zunehmend Fundamentalisten und Dogmatiker als Heilsbringer aufspielen - Menschenfeinde. Wie gut die brillant vermittelte
Botschaft beim Premierenpublikum angekommen war, zeigte der frenetische Beifall für Ensemble, Regisseurin und Ausstatter.
(Wolfgang Nussbaumer)
Aalener Nachrichten, 09.05.2005
Die Tragik wird komödiantisch verpackt
"Der Menschenfeind" im Aalener Theater
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Humorvoll, aber auch ein wenig tragisch — erfolgreich jedenfalls
ist am Samstagabend auf der Bühne des Aalener Stadttheaters im Wi.Z
Molières Tragikkomödie "Der Menschenfeind" mit der Premiere gestartet.
Rundum unterhaltsam inszenierte Simone Sterr das Stück, das sich
inhaltlich alles andere als verstaubt erweist.
Ist Alceste Menschenkritiker oder Querulant? Unrasiert, mit strähnigem
langem Haar bringt ihn Simone Sterr auf die Bühne, lässt ihn
heruntergekommen wirken, ein Mensch, der wenig Begeisterung auszulösen
vermag. Schuld daran: sein notorisches Beharren auf absolute
Wahrhaftigkeit. Alceste tummelt sich in einer Bussi-Bussi-Gesellschaft,
konfrontiert mit einer Welt, in der Schein mehr bedeutet als Sein. Darf
man hier die Wahrheit sagen? "Man muss!", behauptet Alceste. Die Bühne
puristisch, ganz in zeitgeistiger schwarzer Asymmetrie (Jürgen Höth),
schlägt symbolisch einen Bogen durch Jahrhunderte, denn was Alceste
erlebt, ist allzu menschlich. Doppelzüngig, hinterlistig, anbiedernd, wer
hat nicht solche Bekanntschaften.
Der verlogene Rest der Welt
"Üben wir ein wenig Nachsicht mit ihnen", empfiehlt Alcestes Freund
Philente. Doch die Heuchelei nervt. Alceste möchte fliehen vor einer
Gesellschaft ohne Redlichkeit. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit fordert er,
immer und in jeder Situation. Doch just dieser Wahrheitsfanatiker verliebt
sich in Céliemène, der Spezialistin für Scheinheiligkeit, die sich mit
einem Hofstaat an Arroganz, Ignoranz und Oberflächlichkeit umgibt, deren
Freunde sich am Lästern ergötzen. Der Verliebte liebt freilich zu sehr,
glaubt, beider Liebe sei so stark, dass sie auf den verlogenen Rest der
Welt verzichten können.
Alceste, eine tragische und zugleich komische Figur, wird zum
Menschenfeind aus Erfahrung und Verzweiflung. Ein polternder Gunnar Kolb
mimt überzeugend den ungestümen Eiferer, der nicht mitspielen kann und
will, der wütend über die Bühne rennt, in Slapstickmanier seine Mitspieler
reihenweise ins bereitgestellte Wasserbassin wirft, zetert, brüllt, der
ganzen Welt gram ist. Wer neben Alceste die eigentlich tragische Rolle
spielt, bleibt offen. Philinte (Christian Sunkel) könnte es in seiner
aufopfernden Freundschaft sein oder Célimène (Anne Glöcker), die
unentschlossen Agierende, die schwer an Alcestes Liebe zu tragen hat. Den
eindeutig komödiantischen Part hatten Wenzel Banneyer als Hobby-Schöngeist
Oronte, Ina Fritsche als zu kurz gekommene Arsinoé, Katja Bramm als
Alceste-Geliebte im Wartestand Eliante sowie Leif Stawski (Acaste) und
Axel Brauch (Clitandre).
Ensemble zeigt Spiellust
Gesellschaftssatire und/oder Beziehungsdrama? Simone Sterr gibt dem Spiel
mindestens dasselbe Gewicht wie der in Versform gehaltenen Sprache.
Dadurch verstärkt sie die komödiantischen Züge der Aufführung, was durch
die Spiellust ihres Ensembles noch unterstrichen wird.
(Herbert Kullmann)
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