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DAS GROSSE HEFT
von Agota Kristof

Schwäbische Post, 7.3.2005
Diese Zwillinge vergisst man nicht
Andrea Udls Inszenierung des Jugendstücks "Das große Heft" geht tief unter die Haut

  • "Wahnsinn", sagt Jonas. Wahnsinn was? "Wahnsinnig toll", meint er und fügt nach kurzem Überlegen hinzu: "Heftig aber grandios". Der Fünfzehnjährige ist einer von zahlreichen Jugendlichen, die gerade die Premiere der Dramatisierung von Agota Kristofs Roman "Das große Heft" durch das Aalener Theater erlebt hatten. Nach dem anhaltenden Beifall gingen Jung und Alt sehr nachdenklich aus dem Studio.
    Überwältigend ist tatsächlich, was die Aalener unter der Regie von Andrea Udl aus der Romanvorlage gemacht haben. Wie unter dem Mikroskop beobachtet die Inszenierung die Entwicklung eines Zwillingspärchens während eines Krieges; draußen in der kleinen Stadt, bei der Großmutter, wohin sie ihre Mutter vor den Fliegerbomben in Sicherheit gebracht hat. Die Beobachtung wird fokussiert durch den Blick der Kinder, die alles, was sie erleben, aufschreiben. In das große Heft. Darin hat nur Bestand, was wahr ist.
    Wahr ist für die beiden, was wirklich ist. Was ihnen begegnet. Denn damit müssen sie sich auseinandersetzen. Mit der gehässigen alten Großmutter, die sie schikaniert, ihnen das Geld und die Kleidung unterschlägt, die ihre Mutter ihnen schickt. Als Fremde werden sie von den Einheimischen gemobbt, werden missbraucht. Und so lernen sie zu Überleben. Fügen sich selbst Schmerzen zu, um sich gegen die Schläge unempfindlich zu machen, beschimpfen sich unflätig, um die Beleidigungen nicht mehr wahrzunehmen; lernen zu lügen, zu stehlen und zu betrügen, lernen, dass die Fähigkeit, töten zu können wichtiger ist als jene, lieben zu können. Nicht dass sie es im Grunde wollten - aber die Verhältnisse, sie sind nicht so. So werden sie langsam aber sicher erwachsen. Unerbittlich vollzieht sich der Abschied von den Eltern; symbolisch und zugleich real ins Extrem gesteigert in der Szene, als sie den Vater ins Minenfeld schicken, damit über dessen toten Körper einer von ihnen in die Freiheit des anderen Landes gelangen kann. Am Ende also trennen sie sich, die nie voneinander konnten. Sie sind endgültig erwachsen. Hänsel und Gretel haben den Wald des Grauens durchschritten.
    Katja Bramm und Wenzel Banneyer verkörpern in ihren von Lisa Klammer entworfenen braunen Einteilern nicht nur die Zwillinge sondern auch alle andern Figuren dieser bedrückenden Erzählung mit faszinierender Intensität. Ihre eigentliche Kunst besteht indes darin, dabei immer Distanz zu wahren und so die Bilder im Bewusstsein des Betrachters einzufrieren. Sie setzen die seziermesserscharfe Präzision des Textes entsprechend diszipliniert um. Im Gleichmaß der Zwillingsbewegung ebenso wie im blitzschnellen Rollenwechsel.
    Viel Requisiten brauchen sie nicht. Mit den Mitteln des Objekttheaters imaginieren sie in Max Julian Ottos von einer Wand aus Matratzen beherrschten weitgehend leeren Bühne Räume und Zustände. Konsequent verfolgt Andrea Udl das Prinzip der Stilisierung. Es geht um Klarheit, nicht um emotionale Identifikation. Zugleich entzündet sich am Stück Holz, am Apfel, am Stück Brot, an den braunen Decken spielerische kindliche Fantasie, die indes von den Erlebnissen pervertiert wird. Das ist die eigentliche, tieftraurige Botschaft dieses Stückes: wie Kindern ihre Unschuld genommen wird. Ganz tief geht das unter die Haut. Selten sieht man sich durch ein Stück so in die gesellschaftliche Verantwortung genommen.
    (Wolfgang Nussbaumer)

Aalener Nachrichten, 4.3.2005
Gewalt kann Gewalt nicht stoppen

  • Die ungarisch-schweizerische Autorin Agota Kristof lieferte mit ihrem Roman "Das große Heft" probaten Bühnenstoff über die Brüchigkeit von Zivilisation, Kultur und Humanität angesichts ausufernder Gewalt. Verantwortlich für die Inszenierung ist die Hamburger Regisseurin Andrea Udl. Am Donnerstagabend ist auf der Bühne im Alten Rathaus Premiere gewesen.
    1935 geboren und fast 20 Jahre Elend, Krieg, Leid und Unterdrückung erlebt - Agota Kristof nähert sich im "Großen Heft" ihrer eigenen Biographie, versucht aufzuarbeiten, was nicht aufzuarbeiten ist. Eine schreckliche Welt voller Gewalt öffnet sie ihren Lesern, zeichnet ein düsteres Bild menschlicher Existenz. Die fast ausschließlich aus Dialogen bestehende Vorlage scheint wie geschaffen für die Bühne. Doch Vorsicht ist angesagt, will man das Publikum durch die Konzentration des Schreckens nicht betäuben. Gewiss eine Gratwanderung für Gastregisseurin Andrea Udl.
    Bereits die puristisch anmutende Theaterkulisse (Max Julian Ott) spiegelt die Trostlosigkeit kommender Ereignisse. Noch ahnen die schlafenden Zwillinge nichts von dem Schrecken, der sie ihrer Kindheit berauben wird. Oder doch? Der Schlaf ist unruhig, nervös wälzen sich beide auf ihrem Matratzenlager. Krieg herrscht, ein abgeschiedenes Dorf scheint Sicherheit zu bieten. Die dörfliche Gesellschaft freilich entpuppt sich als archaische Welt, die im Dauerkrieg mit sich selbst und anderen lebt. Hart arbeiten müssen die Kinder, nichts Ungewöhnliches für die damalige Zeit. Doch der krude Umgang zehrt aus, Mitmenschlichkeit gibt es nicht, die Sprache wird zum Mittel der Gewalt. Die Zwillinge lernen sich zu wehren, verbal und körperlich, legen Anstand, Erziehung und Humanität ab, Erbarmungslosigkeit gilt als oberste Maxime zwischenmenschlicher Beziehungen.
    Eindringlich verdeutlichen Katja Bramm und Wenzel Banneyer in der Rolle der Zwillinge die schleichende Verrohung der Kinder. Greift der Überlebenswille zu maßloser Gewalt, wird der Verlust Menschlichkeit augenfällig. Und so entfaltet sich auf der Bühne ein Hexenkessel aus Niedertracht, Verfolgung, Willkür und Sadismus, wie ihn nur die Wirklichkeit als Vorlage liefern kann. Unabhängig von der Intention der Autorin gelingt es dem Trio Udl/Bramm/Banneyer genau dies verständlich machen. Sie inszenieren das Spiegelbild einer gewalttrunkenen Gesellschaft, in der jeder zum Opfer wird. Ob sich Gewalt freilich durch solch eine (inhaltlich) entsetzliche Darstellung von Gewalt stoppen lässt, darf bezweifelt werden, denn "nichts ist furchtbarer, als der Mensch in seiner Raserei", wusste schon Friedrich Schiller.
    (Herbert Kullmann)