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CLAVIGO
von Johann Wolfgang von Goethe

Schwäbische Post, 11.10.2004
Denn die Liebe höret immer auf
Simone Sterr inszeniert den "Clavigo" als hoch spannenden Gesellschaftskrimi

  • Das war frech. Am Dichterdenkmal kratzen. Dem Schwerenöter Goethe postum die Leviten lesen, indem man seinen "Clavigo" mit der Selbstabsolution im Regen stehen lässt. Und zugleich die schwarze Wirklichkeit des Sturm- und Drang-Frühwerkes im Heute als hoch spannenden Gesellschaftskrimi im weiten Bühnenraum des Theaters der Stadt Aalen im Wi.Z ans Licht zu kehren - das war nicht nur frech, das war fantastisch.

    Riesig die von Marion Eiselé gestaltete Spielfläche. Begrenzt von silbrig schimmernden Gazevorhängen in die sich fünf weiße Türen öffnen oder schließen. Im Raum verteilt fünf schwarze Stühle. Wie auf einem Schachbrett. Auf dem 90 Minuten lang Simone Sterr in ihrer Inszenierung fünf Figuren hin und her schiebt im Spiel der Macht der Gefühle gegen die ebenso verlockenden Gefühle der Macht. Ein öffentlicher Platz für ein Kammerspiel. Eine Arena für das Duell der Worte. Ein Showdown von Anfang an.
    Die Intendantin des Stadttheaters hat bei ihrer Adaption des frühen Kraft-Werks allen Zierrat gestrichen, auf das ganze gesellschaftliche Umfeld verzichtet und die immer aktuelle Geschichte vom Verrat an der Liebe um der Karriere, um der Teilhabe an der Macht Willen auf die fünf zentralen Figuren reduziert. Auf die Titelgestalt Clavigo, der sich aus kleinen Verhältnissen nach oben geschrieben hat und nach Ministerehren trachtet; auf die einfache, bescheidene Französin Marie, die ihn auf diesem Weg nicht begleiten soll, auf deren Schwester Sophie, die in Gestalt von Anne Klöcker mit pragmatisch gefilterter Herzenswärme um die Zukunft von Schwester und ihrer kleinen Handelsgesellschaft kämpft, auf beider gradlinigen Bruder Beaumarchais und auf den Clavigo-Freund Carlos als graue Eminenz des zynischen Machtspiels.
    Fünf Figuren aus Fleisch und Blut, alle fünf klar konturiert. Um es deutlich zu sagen: Clavigo sieht bei Simone Sterr ziemlich alt aus, obwohl ihn Wenzel Banneyer mit angemessen jugendlich-fiebriger Verve durchs weite Geviert tänzeln, stolzieren und auf allen Vieren wie im Staub kriechen lässt, je nach Gefühlslage. Eine Fahne im Wind, die sich dreht wie die Stürme Beaumarchais und Clavigo blasen. Der hat in Gestalt des unerbittlich aufrechten Leif Stawski zunächst die besseren Karten. Dessen moralische Kompetenz zwingt Clavigo zum Geständnis seines Verrats auf dem Laptop und zurück zu Marie.
    Aber die traut dem Frieden ohnehin nicht. Wie eine Puppe hängt die leichenblasse Marie der Katja Bramm in den Armen des doch so offensichtlich mit neuer Lieb' im Herzen zurückgekehrten reuigen Sünders. Mit Grund. Denn Carlos (Gunnar Kolb, dem das Gothedeutsch wie allen andern ganz selbstverständlich über die Lippen geht) dreht mit ausgefuchster Seelenmassage den Dichter wieder um. Schließlich hat er (damals) als Frauenverachter nur im Kielwasser seines Männerfreundes eine Chance, bei Hofe zu reüssieren.
    Eine kleine Denunziation besorgt den Rest. Betrogen sind Schwestern und Bruder. Der hat als Mann von Anstand die kompromittierende CD zerbrochen. Wie der neuerliche Verrat das angeschlagene Herz Maries. Seinen Racheschwur lässt ihn Simone Sterr indes nicht mehr ausführen. Tragödien enden heute anders. Wer sich zur Unzeit Gefühle leistet, ist wohl selber Schuld. Denn die Verhältnisse, sie sind nicht so.
    Ab durch die Mitte? Clavigo und Carlos als zwei Seiten einer Medaille schlagen sich nach einem kurzen Blick auf das geschwisterliche Elend seitlich in die Büsche, wo die Karriereleiter steht. Dass Simone Sterr selbst auf ihr wie ein Wiesel nach oben klettert, wundert einen nach dieser Inszenierung erst Recht nicht mehr.
    (Wolfgang Nussbaumer)

Aalener Nachrichten, 11.10.2004
Clavigo oder der zeitlose Weg nach Oben
Das Stadttheater hat im Wi.Z mit der ausverkauften Premiere von Goethes "Clavigo" seine neue Spielzeit eröffnet. Um es vorweg zu sagen: Intendantin und Regisseurin Simone Sterr kann zu einer frischen, straffen, jeder moralinsauren Belehrung fernen Inszenierung gratuliert werden. Ein spielfreudiges, gut geführtes Ensemble tat sein übriges.

  • Zur Auffrischung des Gedächtnisses: "Clavigo" erzählt die Geschichte der vom Titelhelden aus Macht- und Karrieregründen treulos verlassenen Marie und von ihrem Bruder, dem die verletzte Ehre seiner Schwester zu rächen suchenden Beaumarchais. Von Beaumarchais unter Druck gesetzt, bereut Clavigo sein Handeln und kehrt zu Marie zurück. Doch Clavigos Freund Carlos, personifizierter Spiritus Rector der Karriere des Helden, stimmt ihn aufs Neue um. Um der eigenen Ambitionen und gesellschaftlichen Konventionen wegen distanziert sich Clavigo erneut von Marie. Das Ende ist blutig: die seelisch gebrochene Marie stirbt und Beaumarchais ersticht Clavigo, der - zu spät - seine Verwerfungen bereut. Soweit in kurzen Zügen die Handlung dieses Stücks aus Meister Goethes Sturm und Drang Periode. Das Aalener Publikum kam nicht in den zweifelhaften Genuss dieses blutigen Endes, doch davon später mehr.
    "Zwei Seelen zerren ach an seiner Brust" - so möchte man anlässlich der Beschreibung des Clavigo frei nach einem anderen Klassiker zitieren. Besagte "Seelen" sind die Herren Carlos und Beaumarchais. Der umtriebige Carlos - in seiner Enthumanisierung und Energie glänzend gespielt von Gunnar Kolb - ist der große Einflüsterer des Egos und der unbegrenzten karrieristischen Möglichkeiten. Auf der anderen Seite steht Beaumarchais, Bruder der verlassenen und entehrten Marie; die Verkörperung des moralischen Prinzips und der persönlichen Ehre. Leif Stawski spielt ihn mit Grimm und Stolz. In der Mitte wird Clavigo positioniert: Wenzel Banneyer verkörpert ihn als blonden, jungen, gutaussehenden Tausendsassa, durchstartend auf dem Weg in die große Karriere. Doch hinter der polierten Erscheinung und Fassade verbirgt sich - ganz wie im Goetheschen Original - ein wankelmütiges, von seinem Umfeld und den Umständen getriebenes Ich. "Mach mich können" - dieses Flehen an seinen Freund Carlos ist das Stichwort; es könnte gleichzeitig das Stichwort für den nach Halt und Sinn suchenden Karrieristen des 21. Jahrhunderts sein. Marion Eiselés sparsames Bühnenbild - statt innerhalb von opulentem klassizistischem Dekor bewegen sich die Akteure in einem auf wenige Stühle und Requisiten reduzierten Raum - unterstreicht diese Zeitlosigkeit.
    Auf diesem Weg in die Moderne zieht die Inszenierung allerdings nicht in allen Aspekten vollständig mit. Warum auf halbem Weg stehen bleiben? Hinsichtlich der Sprache hätte man stärkere Angleichungen an das Heute vornehmen können. Etwas weniger Understatement und sprachliche Werktreue wären in diesem Zusammenhang konsequent gewesen. Hingegen war die Streichung einiger Nebenfiguren des Stücks sicherlich eine sinnvolle Entscheidung. Dank dessen geriet die Inszenierung stringent und mit anderthalb Stunden Länge kompakt. Vom dramaturgischen Standpunkt ebenso gelungen war die Streichung des fünften Aktes. Das Finale mit dem am Ende des vierten Akts eintretenden Tod der Marie - mit adäquater elegischer und zarter Note verkörpert von Katja Bramm - ist den modernen Gegebenheiten weitaus angemessener als eine für den heutigen Geschmack melodramatische "Vermählung" des sterbenden Clavigo mit Marie, wie im 1774 uraufgeführten Original. Hier wurde mit Bedacht der "Clavigo" des Sturm und Drang "entstaubt". Maries Tod ist der Preis von Clavigos Karrierismus und Wankelmütigkeit. Der von seinem Freund Carlos gelenkte Held lebt weiter; bereit weitere Stufen auf dem Weg nach oben zu erklimmen. Neue Opfer dieser Ambitionen werden nicht lange auf sich warten lassen. Simone Sterrs Inszenierung entlässt das Publikum daher ganz im Brechtschen Sinn mit Wut auf das Prinzip des Carlos in die regnerische Aalener Nacht.
    (Thomas Freller)