Premiere in Aalen, "Dilldap" am Sonntagnachmittag im Dezember, hin mit den Kindern, in die Märchenkomödie von Dorst und Ehler mit Igel, Schnecke, Perlhuhn und natürlich einem Riesen, mit vielen, vielen Rollen und Verkleidungen. Doch "Dilldapp" in Aalen war einfach Brentanos Märchen. Um, in und unter einem schön schief gezimmerten Kasperlehäuschen spielten sich zwei Schauspieler mit ansteckend guter Laune durch die schlichte Fabel, mit Hilfe anmutiger Scherenschnitte, mächtiger Schattenrisse und hölzernem Esel. Dorsts Kinderstück wäre hier gar nicht zu besetzen gewesen.
Knallhart geprallt auf Aalener Theaterwirklichkeit: Das Ensemble besteht aus sechs Schauspielern! Beim Vorgänger waren es vier. Wie konnte Gründungsintendant Uwe Schoen mit vier Schauspielern die Stadt bespielen? Wie viele Schauspieler sind ein Ensemble? Frank Baumbauer sagte einst, "wenn ich 'Kabale und Liebe' besetzen kann." Nun, Intendantin Simone Sterr kann "Clavigo" besetzen. Sie vergrößerte das Ensemble von vier auf sechs Schauspieler, um 50 Prozent, Sie war 32, das "anspruchsvolle Studiotheater" immerhin schon elf Jahre alt. Viele Aalener kannten es gar nicht: "Mir hen koi Theater."
Rein in die Stadt, raus aus der Nische! Mit vereinten Kräften und großer Lust, das Theater kräftig in Bewusstsein und Leben der Aalener zu puschen, so traten sie an, die drei vom neuen Leitungsteam: Dramaturgin und Regisseurin Simone Sterr, Regisseur Ralf Siebelt, Dramaturg und Regisseur Winfried Tobias. Am Schlosstheater Gelle lernten sie sich Mitte der Neunziger kennen, durften unter Intendant Serge Roon so ziemlich machen, was und wie sie es wollten, ohne große Rücksicht auf den Geschmack der Abonnenten, was letztlich zur Ablösung des Intendanten führte. Und zu ihrer unverbrüchlichen Arbeitsfreundschaft.
Warum ist es in Aalen so schön?
Kommt man aus Stuttgart an einem dunkelgrauen Wintertag, liegt Aalen hinter mehr als sieben Bergen, eher am Rand der Welt. Im blumigen Stadtprospekt prangt Aalen an der A7 natürlich "mittendrin im Süden Deutschlands", "das Tor zur schwäbischen Alp, in zentraler Lage im Herzen von Ostwürttemberg". Wobei Ostwürttemberg vermutlich nicht zu den allseits bekannten Landstrichen Deutschlands gehört. Aalen hat rund 66.000 Einwohner, drei Fachhochschulen Richtung Optik und Technik, die großen Firmen Zeiss und Triumph, viele junge Familien.
Beim Hineinfahren wirkt die Stadt ärmlich, hässlich, schmutzig graue schmale Häuser mit winterlich verrotteten Gemüsegärten, direkt neben den üblichen auftrumpfenden Amts- und Büroneubauten, offensichtlich fast alle von ein und demselben Architekten. Ein stattliches neues Rathaus, eine Betontrutzburg, selbstsicher erbaut Mitte der Siebziger, auch schon historisch. Es gibt einen hübschen alten Stadtkern, ziemlich klein, mit Fachwerkhäusern, Brunnen und Kirchen, winters mit Weihnachtsmarkt, sommers mit vielen Blumen und Straßencafés. Und seit 29 Jahren Oberbürgermeister Ulrich Pfeifle. Der hat 1991 ein Stadttheater gegründet, einfach so. Weil er es wollte, weil in der Gegend weit und breit kein professionelles Theater war.
Doch siehe da, genauso wie keiner glaubte, dass in Aalen Heilquellen im Boden verborgen wären, als "ein Verrückter, mein Stadtkämmerer kurz vor der Pensionierung" (Pfeifle), das schlankweg behauptete. Längst gibt es in Aalen die Limesthermen, ein Thermal-Mineralbad, so heiß, dass man "nicht zuheizen muss, wie in Stuttgart". Wie keiner daran glaubte, dass in der keimfreien Luft im Stollen des stillgelegten Bergwerks Höhlentherapie gegen Asthma, Heuschnupfen, Neurodermitis möglich wäre - "wieder ein Verrückter, ein Arzt aus Aalen" (Pfeifle), wollte partout eine Asthma-Station unter Tage. Längst ist die Therapie unter Tage etabliert und Aalen Kurort. Übrigens: Der mit 12.000 Euro dotierte Schubart-Literaturpreis, genannt nach dem Aalener Dichter, Journalisten und Komponisten C.F.D. Schubart, verliehen seit 1950, ging dieses Jahr an Henryk M. Broder. Langsam begreift man, dass Aalen seine Potenzen hat, unten in der Aalener Erde und oben in den Aalener Köpfen, und dass Theatermachen hier eine freudvolle und spannende Aufgabe sein könnte.
"Kein Bock auf Exklusivität"
Oberbürgermeister Pfeifle kaufte 1991 dem tschechischen Pantominen Parisek, der sein privat betriebenes Theater auf Schloss Ellwang schließen wollte, weil nicht rentabel, die Rechte an seinem Theater ab. Ein genialer Schachzug, denn so erhielt er vom Land Baden-Württemberg sofort Kommunaltheaterförderung, die nur Theater bekommen, die bereits fünf Jahre existieren. Gründungsintendant Uwe Schoen blieb gleich elf Jahre, schaffte mit seinen vier Schauspielern sowie ständigen Gästen aus der näheren Umgebung einen erstaunlich anspruchsvollen Spielplan: Javier Tomeo, George Tabori, David Mamet, Judith Herzberg, Heiner Müller, viele eigene Projekte und Kinderstücke, ab und an einen Shakespeare, einen Goldoni, einen Büchner, wagte sich an Elitäres wie "Die Schwärmer" von Robert Musil oder Elfriede Jelineks Mammutwerk "Das Sportstück".
Als Kraftakt durchaus ehrenwert, aber sieben Stunden "Sportstück", das ist nichts für Aalen, befanden die drei Nachfolger, als sie in der Vorbereitungsphase ins Theater gingen und die Besucherstatistik studierten. Sie wollten es anders machen. Anspruchsvoller, zeitgenössischer Spielplan: ja. Aber nicht das Theater wie einen elitären Club führen, wo sich das Publikum letztlich aus den immergleichen hundertfünfzig Leuten rekrutiert, insgesamt nur acht bis höchstens 10.000 Zuschauer jährlich, davon allein 4.000 beim fetten Sommerhappen, der Freilichtaufführung. Öffnen, öffnen, öffnen, auf die Leute zugehen! Ralf Siebelt bringt es auf den Punkt: "Wir haben keinen Bock auf Exklusivität!"
Ihr kommt aus dem Gefängnis frei...
Siebelt und Winfried Tobias waren total begeistert von ihrer Aussicht auf Aalen, als ich sie im Sommer 2001 im Gefängnis traf. Zum zweiten Mal im Gefängnis, nach Celle jetzt Fuhlsbüttel; im Rahmen ihres Projekts "Theater/Gefängnis" hatten sie mit Dieben, Zuhältern und Mördern Taboris "Kannibalen" erarbeitet, unter widrigsten logistischen, finanziellen und gruppendynamischen Umständen. Ganz offensichtlich sind Siebelt und Tobias durch Schwierigkeiten nicht zu schrecken. Unerschrocken ist auch das erste Adjektiv, das einem einfällt für Simone Sterr, neben unkompliziert, zupackend, einfallsreich.
Während der "Theater/Gefängnis"-Projekte der beiden Jungs leitete Simone Sterr das Kinder- und Jugendtheater in Würzburg, war dann als Dramaturgin und Regisseurin am Stadttheater Gießen, und wenn es brannte, kam sie ein paar Tage ins Gefängnis und half mit. Die Aalener suchten just in dem Moment eine Theaterleitung, als jeder für sich dachte "jetzt könnte man mal was Eigenes aufziehen". Zu dritt. Aber warum Aalen? Simone Sterr: "Die Ausschreibung war interessant, weil es ein kleines, flexibles Haus ist." Ralf Siebelt ergänzt: "Weil es sehr beweglich ist, weil es kein Abonnement hat, man deshalb frei über Etat und Spielplan verfügen kann." Simone Sterr: "Weil es als Studiotheater ausgeschrieben war, weil die Spielpläne unserer Vorgänger so waren, dass man gestutzt hat, Mensch, wo muss dieses Aalen eigentlich sein, dass man da solche Dinger machen kann? Das Haus ist ja immer durch eine sperrige, ungewöhnliche Auswahl von Theaterstücken aufgefallen." Lange genug hatten sie an den Gitterstäben der Institution Stadttheater gerüttelt, hier war die Chance, dessen Vorteile mit denen einer freien Arbeit zu verbinden.
Die beste aller Theaterwelten
Insgesamt arbeiten am Theater Aalen zwanzig bis zweiundzwanzig Menschen. Die je drei Schauspielerinnen und Schauspieler kommen aus Berlin, Hamburg, München, Köln, Salzburg, Mannheim. "Aalen geht eigentlich nur im Sommer" (Leif Stawski), aber mit ihrer Arbeit hier sind alle glücklich, genießen die Kontinuität von drei unterschiedlichen Regiestilen. "Winfried Tobias geht mehr in Richtung Performance, macht nicht immer straight Theater, mehr experimentelle Sachen, das wird spät festgezurrt. Simone Sterr ist klar in ihren Vorstellungen, man wird geführt, Ralf lässt es mehr aus den Schauspielern heraus kommen" (Wenzel Banneyer). Alle loben und lieben das häufige Spielen, die Abwechslung. Denkt man etwa Gunnar Kolb, der Riese aus "Dilldapp", sei festgelegt durch seine Stattlichkeit, hat man sich mächtig getäuscht, er hat verblüffend vielen Facetten. In Gerhart Hauptmanns "Friedenfest" den Vater und danach in "Fremdeln" von Kristo Sagor den Sohn zu spielen, fand er es doch "ein bisschen komisch, dass ich von achtzig auf vierzehn runter musste", während Partner Wenzel Banneyer- umgekehrt erst Sohn, dann Vater - sich problemlos umstellte. "Die Bandbreite ist das Tolle, da kann sich keine Marotte oder Attitüde einschleichen." Anne Klöckner ist eine quirlige rothaarige Sophie in "Clavigo", als ältere, kühle, schwarzhaarige Ehefrau in "Eisvögel" erkennt man sie nicht wieder und staunt über die träge-dümmlich und anspruchsvoll das Schnäuzchen verziehende Rehfrau in Sibylle Bergs "Helges Leben". Extrem wandelbar sind sie alle, nur so kann ein Sechs-Personen-Ensemble funktionieren, das ab und zu aufgestockt wird mit ein, zwei Gästen.
Es gibt eine eigene Schneiderei, eine eigene Werkstatt, aber der Schreiner, der das Kasperlehaus gebaut hat, fährt auch Licht und Ton in der Vorstellung "Dilldapp" - jeder ist für seine Vorstellung zuständig. "Veranstaltungstechniker" werden hier ausgebildet, ein Mangelberuf in Sparzeiten, alle können alles, und die Arbeitszeit ist geschickt verteilt auf morgens und abends. Maske und Garderobiere gibt es nicht, das machen die Schauspieler selbst. Selbstverständlich packt die Intendantin an bei den letzten technischen Vorbereitungen zur Wiederaufnahme, und natürlich sind wie bei jeder Premiere alle drei von der Leitung da, zeigen die Garderobe, kümmern sich um Programmhefte, reißen die Karten ab, führen ins Theater.
Theater im Sitzungssaal
Es gibt in Aalen gar kein Theater, kein eigenes Haus, keinen Theaterbau. Es gibt das historische Alte Rathaus, inzwischen als Kulturhaus etabliert, mit Café, Museum und Galerie, dort ist im zweiten Stock das kleine Studio untergebracht. Daneben, im schönsten Zimmer des Hauses, dem Napoleonzimmer, kann man trinken und oft auch essen. Obwohl seit Jahren versprochen, prangt an der frisch getünchten Rathausfassade immer noch kein Schriftzug mit "Theater Aalen". Eins der ständigen Ärgernisse der drei. Aber was ein Fluch sein könnte, nämlich Theater machen zu müssen in einem dunkel getäfelten Sitzungssälchen, wird zur Herausforderung.
Hier muss man den Raum für jede Inszenierung neu erfinden, mal längs, mal quer, und es fanden sich unendlich viele Möglichkeiten, mit einer Holzvertäfelung umzugehen. Mal wird alles mit Plastikplanen verdeckt, ein rotes Riesensofa ist einziges Mobiliar, die Zuschauer sind an der Wand aufgereiht. Mal wird ein komplettes Glashaus reingesetzt, die Täfelung frech als Kontrast benutzt, und auf der Zuschauertribüne gegenüber turnt auch mal eine Schauspielerin, um auf den See zu gucken, ein schimmerndes Stück Makrolon an der Wand. Der See funktioniert. Je nach Bühnenbild variiert die Zuschauerzahl, geht "bis auf sechzig hoch", berichtet stolz Daniela Mühlbäck, unersetzliche Theatermitarbeiterin, nebenbei junge Mutter und aus Aalen.
Die zweite Spielstätte liegt gar außerhalb der Stadt im neuen Wirtschaftszentrum Wi.Z. Hier sind seit Sterr und Konsorten auch die hellen und großzügigen Büros des Theaters, direkt neben Probenräumen und Werkstatt. Das war eine Bedingung, sie wollten alles, was möglich war, in einem Haus. Die eigentliche Bühne liegt zwei Stockwerke darüber und ist wirklich ein schöner und großer rechteckiger Raum, ohne feste Bestuhlung, mit bis zu 150 Plätzen. Davor ein flottes Foyer mit runder Bar, zu Vor- und Nachgesprächen.
Seit der ersten Spielzeit 2002/03 lockt das Leitungstrio die Aalener mit vereinten Kräften ins Theater; an welchem Ort auch immer verlocken sie zu mehr als Theater, zu "Theater Plus". Sie laden zum "Gastmahl", gemeinsames Essen im Napoleonzimmer, das Ensemble kocht, zum gemeinsamen Fernsehen, "Tatort" gucken, verführen zum Hör/Spiel im dunklen Stollen Untertage, lesen Hiob und Dante in der Kirche. Ein großer Erfolg ist der bunte Abend "Showtime", alle zwei Monate im Wi.Z. Mit lokalen Musik- und Kleinkunstgrößen, mit zwei festen Moderatoren, einer davon Winfried Tobias, mehreren festen Programm-Einlagen, zur Kenntlichkeit und wegen der Anbindung: eine Rockstar-Nummer von und mit Ralf Siebelt und die "Peinlichen Drei", was da sind zwei Schauspielerinnen plus Intendantin, danach kommt ein DJ und legt auf, auch für über Zwanzigjährige ist dann Tanzen angesagt.
Walsh zur Eröffnung, Durringer im Schaufenster
Zeitgenössisches waren die Aalener ja gewohnt. Kühn eröffnete die neue Mannschaft mit "Bedbound" von Enda Walsh. Ausgerechnet! Wo ein bankrotter Möbelhändler zusammen mit seiner gehbehinderten Tochter in einer aufs Bett geschrumpften Welt nochmal sein Leben und ihre verquere Hassliebe durchspielt. Das Stück hatten sie ausgesucht, weil ihnen auffiel, dass in Aalen einige Läden leer waren, pleite gegangen, u.a. auch ein Möbelgeschäft. Enda Walsh kam persönlich nach Aalen und gab dem "Bedbound" auf der Ostalp sein okay, die "Schwäbische Post" überschlug sich vor Begeisterung. Elf Premieren haben sie in der ersten Spielzeit durchgejagt, außer "Friedensfest" von Gerhart Hauptmann nur Zeitgenössisches, ein mobiles Kindertheater etabliert, die deutsche Erstaufführung von Jewgenij Grischkowez' "Gleichzeitig" ergattert.
Die zweite Inszenierung spielte in dem leerstehenden Möbelhaus. Winfried Tobias glückten in einer fabelhaft rhythmischen Kombination von Posieren und Gruppieren sowie jäh ausbrechender Bewegung, von Text und Filmeinspielung, der einfallsreichen Ausnutzung des Raumes geradezu avantgardistische Momente im Schaufenster von "Möbel Gross" in Aalen. Ausgestellt im Schaufenster Beziehungsmonologe, Duette: "Tötet die Liebenden" von Xavier Durringer. Der Raum ein langer Schlauch, eine Seite Schaufenster, auf der anderen die Zuschauer die Wand entlang aufgereiht, die Schaufenster weiß gestrichen, unten ein offener Streifen, durch den die Lichter der Autos, die Bewegungen auf der Straße erkennbar sind. Gegen Ende tauchen plötzlich zwei Männer im weißen Schutzanzug draußen auf, sie spritzen die angemalten Scheiben von außen ab, das wirkt gewalttätig, wie ein Angriff. Die Schauspieler fliehen auf die Straße, in die Stadt, ihre Stimmen bleiben innen, durch verwischte Scheiben sieht man Spieler sich mit Passanten mischen.
Die unverfremdete Wirklichkeit kann vergleichsweise hart sein. Gleich in der ersten Spielzeit wurde der städtische Theateretat um fünf Prozent gekürzt, statt 843.000 Euro gab es nur noch 800.000 Euro. Dabei haben Sterr, Siebelt und Tobias die jährliche Zuschauerzahl mehr als verdoppelt auf 21 .000 Besucher im Jahr. Sterr: "Wir kommen mit dem Geld aus. Der gesamte Etat, inklusive Einnahmen, den Zuschüssen vom Land Baden-Württemberg und der Stadt Aalen, liegt zur Zeit bei knapp 1,2 Mio. Euro. Aber das ist das Limit." Kürzungen gleich in der ersten Spielzeit hat das Leitungsteam dadurch aufgefangen, dass aus einigen hundertprozentigen Stellen achtzigprozentige wurden. Die beiden Auszubildenden können nicht übernommen werden wie vorgesehen, dafür fing dann wieder die Stadt Kosten der Tariferhöhungen auf, und es gab keine weiteren Kürzungen.
Die neu geschaffene Stelle eines Theaterpädagogen blieb erhalten; die Arbeit in der Schule, die Arbeit mit Jugendlichen ist ein wichtiger Schwerpunkt. Mit Stücken wie "Ritzen" gehen sie in Schulen, das extra gebaute mobile Puppentheater mit einem Stück von Daniil Charms ist zum Bestellen für jedermann, die Inszenierung von Simon Stephens' "Reiher" wurde mit arbeitslosen Jugendlichen erarbeitet. Vieles wird versucht, um das Theater mit der Stadt und ihren Bewohnern in Beziehung zu setzen.
"Die Eisvögel" - ein Härtetest
Härtetest war eine Uraufführung, "Die Eisvögel" von der 25-jährigen Tina Rachel Völcker. Winfried Tobias hatte dieses virtuos Sprachhaltungen und Perspektiven wechselnde Stück zu naturalistisch umgesetzt. Eine Woche vor der Premiere beschlossen die drei, so geht es nicht - und machten zusammen weiter. Sterr choreographierte, Siebelt verkürzte, stilisierte, und bei der Premiere sah man ein modernes Märchen vom bösen Mädchen, das sich bei einem gutsituierten Ehepaar einnistet, in ihrem einsamen Haus im Wald ihre Ehe und sie selbst auf den Kopf stellt. Bloß sich selbst nicht helfen kann.
Ein Plot ähnlich wie Martin Crimps "Auf dem Lande", spannend daran das Beziehungsspiel über Bande, das häufig eingesetzte, wie unbeteiligte Kommentieren in der dritten Person. Im Glashaus wird heftig mit Steinen geworfen: Dafür hat die Bühnenbildnerin Olga von Wahl ein Haus aus Malokron in die Holzstube des Alten Rathauses gesetzt, tauglich als Aquarium, Streitbox, ein gläsernes Gefängnis. Eine kunstvolle Toncollage verstärkte die irritierend heißkalte Atmosphäre. Dass diese Inszenierung in die Irre gegangen, dann zu dritt in einer Woche gestemmt worden war, nie wäre man darauf gekommen.
Mindestens zwei Inszenierungen pro Spielzeit macht die Intendantin selbst, aus vorigem Sommer stammte die virtuos hingelegte Groteske "Helges Leben" von Sibylle Berg, aus diesem Herbst ein transparenter, schlüssiger "Clavigo" im Wi.Z. Weit und offen der Raum, sparsamst möbliert mit zwei Stühlen, einem Laptop. Die Geschichte durchlässig gemacht für heute: Karrierist Clavigo verlässt seine Geliebte Marie gleich zweimal, weil sie nicht passt zur Karriere, zu Laptop und Lifestyle.
Dieser Clavigo war bis kurz vorm schlechten Schluss ein Mensch, dessen Hin und Her man verstehen, mitdenken, mitfühlen konnte, schwankend, unschlüssig, ein zutiefst ratloser Clavigo (Wenzel Banneyer), dagegen eine barmend unglückliche, trampelige, verheulte Marie (Katja Bramm), wirklich nicht vorzeigbar in VIP-Lounge und Yuppie-Bar. Helle Lampen symmetrisch am Boden in den Szenen Clavigos, ein buntes Tuch für Marie, das sie mit sich schleppte, als ihre Insel, ihre Welt, sie hätte eine junge Türkin, eine Russlanddeutsche sein können. So eine kleine Gemüseverkäuferin würde ein "Spiegel"-Journalist mit Trend zum Regierungssprecher natürlich nicht ehelichen.
"Nur für Erwachsene" - Poesie der Grausamkeit
"Nur für Erwachsene" verblüfft durch eine poetisch, komisch, verstärkend wirkende Überzeichnung. Per Videobeamer werden die Konturen des reinweißen Motelzimmers nachgezeichnet, flackert ein Motelschild an der Wand, kommt später Blut aus einem übers Bett gebeamten Bild, agieren die Personen immer wieder doppelt, als Comic ihrer selbst. Die Projektionen von Max Julian Otto (Ausstattung) waren poetischer Pfiff dieser Motelbeziehungs-Pulp-Fiction von George F. Walker. Regisseur Ralf Siebelt erfand mit dem Künstler eine stimmige zweite Welt, bringt die absurde Story durch Künstlichkeit ins menschliche Lot.
Der überflüssige Mord an einem jungen Kriminellen schweißt die vier Personen, zwei Cops, eine Freundin, eine Ehefrau, wieder zusammen, gemeinsam werden sie den Mord decken. Das hoffnungslos zerstrittene Ehepaar - verständnislose Frau (Anne Klöcker) mit saufendem und hurendem Cop (Leif Stawski) - vergräbt die Leiche zusammen. Das sich angeblich nur für heimlichen Sex und illegale Gefälligkeiten treffende Paar - glücklich verheirateter Cop (Gunnar Kolb) und unglückliche Single-Anwältin (Ina Pritsche) - gesteht sich in den letzten zwei Sätzen des Stückes seine Liebe. Das spielen die vier schön unterkühlt und falsch und gemein und hilflos, wie Menschen eben so sind, Fiction hin und Pulp her. Anschließend ist man völlig vom Aalen-Virus ergriffen.
Nach knapp drei Jahren sind die möglichen Konstellationen mit sechs Schauspielern ziemlich erschöpft, finden Schauspieler wie Regisseure. So fügt es sich, dass Simone Sterr ihren Fünfjahresvertrag bereits nach drei Jahren auflöst, um in der nächsten Spielzeit als Intendantin nach Tübingen zu gehen. Sie gehen fast alle. Ende Januar hat auch Oberbürgermeister Ulrich Pfeifle seinen Rücktritt verkündet - eine Sensation in Aalen. Die neue Intendantin heißt Katharina Kreuzhage, ist Regisseurin und war u.a. Oberspielleiterin am Schauspiel Essen. Sie wird hoffentlich wieder einen Oberbürgermeister vorfinden, der Theater für absolut notwendig hält.
(Ulrike Kahle)