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Theater der Zeit, 04/2005
Trotziger Ehrentitel
Simone Sterr, Intendantin am Theater der Stadt Aalen, im Gespräch

  • TdZ: Sie leiten in Aalen das "kleinste Stadttheater der Republik". Wie fühlt sich ein Ensemble mit diesem trotzigen Ehrentitel? Lautet Ihr Motto: Jetzt erst recht?
    Der Superlativ ist schon zweifelhaft. Abgesehen davon, dass er sich manchmal ganz gut vermarkten lässt, wissen wir gar nicht, ob er uns überhaupt noch zusteht. Moers könnte auch einen Anspruch anmelden. Da macht Ulrich Greb ja auch viel Theater mit noch weniger Menschen. Wir mögen die Bezeichnung jedenfalls nicht. Auf das Verhältnis der Mittel, die wir einsetzen, zu den künstlerischen Ergebnissen, die wir damit erzielen - darauf sind wir allerdings manchmal schon stolz. Nahezu alles, was wir ausgeben, findet sich in der Kunst auf der Bühne wieder. Das ist schon ein "Kleintheatervorteil".

    Als Gegenpol zu den Tourneebühnen zeigen Sie viel zeitgenössische internationale Dramatik, spielen Autoren wie Kristo Sagor, Xavier Durringer und Simon Stephens. Folgt Ihnen da das Aalener Publikum?
    Ja, das tut es! Natürlich passiert das immer im Rahmen eines Studio-Publikums, also zwischen 50 und 100 Leuten am Abend, das dann aber drei bis vier Mal die Woche.
    Man erwartet das vielleicht nicht, aber es gibt hier ein zwar begrenztes, aber ganz offenes und neugieriges Publikum. Die Zuschauer werden eher skeptisch, wenn sie "Clavigo" auf dem Spielplan sehen, und machen sich Sorgen, dass wir jetzt zum spießigen Stadttheater werden.

    Theater, sagen Sie, sollte sich einmischen. Wie sieht das im Alltag eines Theaters aus, dessen knapper Etat von 1,3 Mio. EUR noch weiter gekürzt wurde?
    Mit den finanziellen Mitteln hat das tatsächlich nichts zu tun. Wir haben nach einer Unbedingtheit und einer Radikalität in der Auswahl und Präsentation unserer Themen gesucht, gleichzeitig aber die Vermittlung zum Publikum und auch die potenziellen Zuschauer nicht aus den Augen verloren. Wir haben zahlreiche Formate aufgelegt, die Räume für Publikumsbegegnung jenseits der Theateraufführungen schaffen. Wir kochen im Foyer, machen Live-Hörspiele im Bergwerk, sind auf dem Wochenmarkt präsent, haben "Reden" im Rathaus gehalten, lesen "Dante" in der Friedhofskapelle und vieles mehr. Dieser Teil der Präsentation von Themen und Inhalten ist uns enorm wichtig und hat uns auch geholfen, Räume in dieser Stadt zu besetzen und Publikum zu erobern.

    Nach welchen Kriterien wählen Sie Autoren und Stoffe aus?
    Sprachliche Qualität ist uns sehr wichtig. Sowohl die des Autors als auch die Möglichkeit des Inszenierenden, eine Bild-und Körpersprache und eine eigene Textbehandlung zu entwickeln. Geschichten werden gesucht, die unseren Blick auf die Welt und die Gesellschaft verändern und schärfen. Viele unserer Stücke beschreiben eher Zustände als dass sie Rezepte anbieten. Sie erzählen von Verwirrtheiten, von Rissen, von Ungereimtheiten.

    2003 richtete Aalen die deutschsprachige Erstaufführung von Jewgeni Grischkowez' "Gleichzeitig"aus, 2004 die Uraufführung von Tine Rahel Völckers "Eisvögel". Wie kommt ein kleines Theater an Inszenierungen, die sonst größeren Bühnen vorbehalten bleiben?
    Jenseits von Moden haben wir uns für zeitgenössische deutsche und europäische Dramatik interessiert. Und eben nicht nur für Ur- oder Erstaufführungen, sondern einfach für gute Stücke. Wir haben auch nachgespielt, wenn wir das Stück mochten. Mittlerweile haben das auch die Verlage gesehen und vergeben gerne auch mal was an uns.
    Sie werden mit der Spielzeit 2005/06 als Intendantin an das Landestheater Tübingen wechseln, ein Haus mit einem Etat von 5,9 Mio. EUR. Werden Sie dort, was die Risikofreudigkeit des Spielplans betrifft, noch zulegen?
    Viereinhalb Mal so viel Geld. Wow. Aber sechs Mal so viele Mitarbeiter. Jetzt könnten Sie rechnen und sagen: "Echt reiches Haus, dieses Aalen!" Die Risikofreudigkeit liegt im Wesen auch der neuen Tübinger Theaterleitung, zu der neben Ralf Siebelt und Volker Schubert, die aus Aalen mitkommen, noch die Dramaturginnen Anna Haas (derzeit Schauspielhaus Hamburg) und Inge Zeppenfeld (Theater Osnabrück) gehören. Da uns der fremde Blick interessiert und das Theater die Ausweitung des Ausschnitts von Welt ist, der uns in unseren begrenzten Lebenszusammenhängen ja nur zur Verfügung steht, haben wir unser Augenmerk ins benachbarte Ausland gerichtet. Erstaufführungen und zeitgenössische Stucke aus Irland, Bulgarien, Katalonien, Russland und England stehen auf dem Programm. Die Wiederentdeckung klassischer Werke gehört selbstverständlich auch auf den Spielplan eines Hauses wie Tübingen. Mit Gorki, Brecht, Lanoye, Kästner stellt sich die Aufgabe, Stücke und Themen vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte an der Jetztzeit zu überprüfen. Zulegen geht natürlich immer. Das Theater ist ja auch eine Zumutung. Und deren Ende ist nicht in Sicht.
    (Otto Paul Burkhardt)

Theater der Zeit, 04/2005
Welttheater ist überall
Ein Rückblick auf das Theater Aalen unter Intendantin Simone Sterr

  • Sie machen Theater der Welt im Westentaschenformat. Das Aalener Theater unter der 34-jährigen Intendantin Simone Sterr blickt nach Irland und Ungarn, Sibirien und Kanada. Fast ausschließlich zeitgenössische (auch deutschsprachige) Autoren - von Jewgeni Grischkowez bis Enda Walsh - stehen auf dem Spielplan, zwischendurch auch mal Goethe, Hauptmann oder ein Freilicht-,,Robin Hood". In Aalen, einer 67.000-Einwohner-Stadt auf der Ostalb, wird internationales Theater gemacht. 1991 gegründet, galt es lange als das "kleinste Stadttheater der Republik", konzipiert als Gegengewicht zum konventionellen Repertoire der Tourneebühnen. Heute verfügt das Haus über ein siebenköpfiges Ensemble (insgesamt sind es rund 20 Mitarbeiter). Neun Inszenierungen kommen im Schnitt pro Spielzeit heraus, man zählt ca. 20.000 Zuschauer.

    Das Ensemble um Simone Sterr mischt sich ein. Bietet Hintergrundveranstaltungen zum Irak-Krieg. Rückt bei drohenden Mittelkürzungen 20-köpfig den tagenden Gemeinderäten auf die Pelle. Und ergänzt das Ortsschild "Aalen - Ostalbkreis" frech mit dem Zusatz "Theaterstadt". Die Intendantin und der Dramaturg stehen abends auch mal am Eingang und reißen Karten ab. Doch: "Es wäre falsch zu behaupten: Ein kleines Haus, da machen alle alles, und wir bilden eine harmonische Künstlerfamilie. Das ist Romantik", sagt Simone Sterr. Ihre Theatersozialisation begann als Jugendabonnentin in Konstanz, damals unter dem heutigen Hamburger Thalia-Chef Ulrich Khuon, nach dem Studium ging sie als Dramaturgin nach Gelle und trat nach Stationen in Würzburg und Gießen 2002 ihre erste Intendantenstelle in Aalen an. Simone Sterr versteht sich als prima inter pares in einem "eingespielten Team". Mit Ralf Siebelt, Winfried Tobias und seit kurzem auch mit Volker Schubert bildet sie eine "dramaturgische Viererkette". Sterr: "Es gibt immer einen, der in die Lücke stoßen kann, und es sind nie alle, die sich auf eine Sache stürzen. Keine Löcher, keine Klumpen, das ist der Idealzustand."

    Mit Siebelt, Sterr und Tobias zeichnen auch gleich drei Regisseure für die Uraufführungsinszenierung "Eisvögel" von Tine Rahel Völcker verantwortlich. Die 25-jährige Autorin hat bereits in "Frau Vivian bestellt eine Coca" (UA Mannheim 2003) die Kältestarre einer Kleinfamilie beschrieben. In "Eisvögel" benutzt sie ein ähnliches Verfahren: Mit einem Netz rasch wechselnder Monolog- und Dialogszenen zeichnet sie die Irritationen einer Drei-Personen-Konstellation seismografisch auf. Karl, seit langem liiert mit Eva, begegnet der offenbar lebensmüden Josi und bringt sie mit nach Hause - seine Partnerschaft mit Eva gerät ins Wanken, die schicke Yuppiewohnung (Bühne Olga von Wahl) mutiert zum Labor der ungelebten Träume. Josi, bei Ina Pritsche eine junge Nomadin aus dem Nirgendwo, schwankt zwischen existenzieller Verstörtheit und bissiger Arroganz, sie wirkt im Seelenfrost zwischen Karl und Eva wie ein Lebenslügen-Detektor. Angestiftet von Josi, entdeckt Leif Stawkis labiler Karl bei sich verschüttete Ausbruchssehnsüchte, und Anne Klöckers verunsicherte Eva revitalisiert ihr einstmals kämpferisches Herz. Das Aalener Regieteam inszeniert Völckers Dreierkiste als Beziehungsthriller in knappen Spotlights - erkaltete Gefühle, beredte Sprachlosigkeit. Gnädigerweise rafft die Uraufführungsinszenierung die am Ende etwas weitschweifig werdende Trio-Problematik und verkürzt das mit antiker Tragödiengrausamkeit kokettierende Finale, in dem Josi sich einen schweren Eisenhammer zulegt. So endet das lange Gefühlscrescendo, das von der ersten, haarrissartigen Entfremdung bis zum offenen Psychoterror anschwillt, mit einer Implosion. Josi ist wieder weg, Karl und Eva frühstücken zusammen. Es ist alles wie vorher und doch nichts mehr, wie es einmal war.
    Im Vergleich zu derlei mitteleuropäischen Yuppiesorgen geht es bei den kaputten Cops, Anwälten und Dealern in den dirty little plays des kanadischen Bühnenautors George F. Walker deutlich dreckiger und krimineller zur Sache. Walkers "Nur für Erwachsene", Teil 5 des Sixpacks "Suburban Motel", heißt im Original "Adult Entertainment", ein Titel, der weit mehr bittere Ironie verströmt als der deutsche Übersetzungsversuch. Denn es geht um Sex, um Alkohol, um korrupte Polizisten, um Drogen, um ramponierte Menschen an der Grenze zum sozialen Abseits. Regisseur Ralf Siebelt verzichtet klugerweise auf Milieu-Naturalismus und zoomt direkt auf die Dialoge. Ausstatter Max Julian Otto verwandelt das Bühnengeschehen im Motelzimmer durch aufprojizierte Zeichnungen, Sprechblasen und Filmsequenzen streckenweise in einen Comic oder in eine Kinoleinwand. So gesehen, schafft Siebelt eine eigene ästhetische Qualität zwischen Pulp-Fiction-Movie und Boulevardtheater: Er abstrahiert die Story zur schrägen Groteske. Angesichts der kriminellen Verstrickung der Walker-Figuren entwickeln Sätze wie "Die Wahrheit ist die einzige verlässliche Alternative zur totalen Scheiße" einen geradezu sarkastischen Tiefgang. Das Ensemble schlägt sich tapfer durch Siebelts Short-Cuts-Szenenfolge, allen voran Gunnar Kolbs trockenhumorig-prolliger, bekennend eindimensionaler Cop Max ("ich denke, was ich denke, wenn ich es denke, sonst nichts") und Ina Fritsches von substanziellen Zweifeln geplagte Anwältin Jayne ("wir sind beide Menschen, die aufgegeben haben"). Nach einem abenteuerlichen Mix aus Ehestreit, Suff und Schießerei sagt Max mit einer Stichwunde im Bauch: "Ich liebe dich, Jayne." Jayne antwortet: "Ja, ich dich auch" - und es klingt leise, ein bisschen kleinmütig und nicht sehr hoffnungsfroh.

    Wie Abstumpfung und Verrohung schon im Kindesalter angelegt werden, davon handelt schließlich Agota Kristofs Roman "Das große Heft". Regisseurin Andrea Udl (Hamburg, Graz, Tübingen) wählt eine lineare, ruhigere Erzählweise, in der die Entwicklung - wie sich Zwillingsgeschwister in einer lieblosen, kriegsversehrten Umgebung gegenseitig zu fühllosen Horrormonstern drillen - umso erschreckender wirkt. Zwei Schauspieler schultern die in Aalen entstandene Dramatisierung des Romans, erzählen, spielen die Zwillinge und alle anderen Personen. Der Prosa-Sog des Romans wird in dieser Strichfassung zwar zerstückelt. Doch übers Ganze gesehen, gelingt Andrea Udl das fesselnde Protokoll einer seelischen Verelendung. Wenzel Banneyer und Katja Bramm agieren wie ein schizoides und doch symbiotisches Doppelwesen, vollführen abgezirkelte Geschwisterrituale und skizzieren in kurzen Rollenspielen die deprimierende Außenwelt - die böse bellende Großmutter, den scheinheilig lüsternen Pfarrer. Die Zwillinge lernen zu stehlen, zu rauben, zu erpressen - und Regisseurin Andrea Udl und ihr Bühnenbildner Max Julian Otto zeigen das alles in lapidarer, karger, beklemmender Beharrlichkeit.
    Wenn im Sommer Simone Sterrs Intendanz nach drei Jahren endet, will sie mit ihrer Crew einen markanten Schlusspunkt setzen: Schiller mitten in der Stadt. Karl Moor und seine Räuber sollen das neue Rathaus "unsicher machen". Im Herbst wechselt Simone Sterr dann als Intendantin ans Landestheater Tübingen (LTT). Auch dort wird sie eine Art Theater der Welt bieten, mit einer Blickweite von China bis Kanada. Gemäß dem Landesbühnenauftrag, auch die Region mit Theater zu versorgen, hat sie den neuen LTT-Spielplan als "Routenplaner" konzipiert - als Reise von "Mamma Medea" (Tom Lanoye) bis "Wassa Schelesnowa" (Maxim Gorki), als Fantasietrip vom "Goldenen Vlies" zum "Rollenden Rubel", mit beiliegenden Landkarten zur besseren Orientierung.
    (Otto Paul Burkhardt)