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Die Deutsche Bühne, 12/2002
Den Club öffnen
Brot und Spiele: Am Theater Aalen hat die jüngste Intendantin Deutschlands ihre erste Spielzeit begonnen

  • Aalen, 67000 Einwohner, liegt versteckt am Rande der Schwäbischen Alb, 80 km jenseits von Stuttgart. Hier wurde 1991 das kleinste Stadttheater Deutschlands, das Theater der Stadt Aalen gegründet. Eine Gründung, vom Willen einer reichen, modernen Kleinstadt getragen: Man wollte einen Gegenpol zum Tourneetheater bilden, mit dem eine Stadt in dieser Größenordnung in der Regel vorlieb nehmen muss. Das Einspartenhaus mit immerhin drei Spielstätten und einem Budget von 1,3 Million Euro wurde maßgeblich von Udo Schoen geprägt, Intendant, Schauspieler, Regisseur und Theatergründer. Er machte hier so ambitionierte Dinge wie die achtstündige Inszenierung von Jelineks "Sportstück" oder auch Robert Musils als unspielbar geltende "Schwärmer" - eben die "Vermittlung literarisch anspruchsvoller Gegenwartsstücke", die im Programm steht - keinesfalls klassischer Kanon, und, sollte man vermuten, eher ungenießbar für eine Stadtbevölkerung, die von ihrem Stadttheater bisher kaum etwas weiß.

    Nun ist der erste Leitungswechsel da. Das kleinste Stadttheater hat die jüngste Intendantin Deutschlands bekommen: Simone Sterr, 32, hat sich vor allem vorgenommen, das Theater "radikal zu öffnen". Denn die eigentlich aufgeschlossenen Aalener - eine gebildete, liberale und durchaus jugendliche Mittelschicht, die bei den Großfirmen Zeiss und Triumph arbeitet - kommen kaum. Nur 8000 bis 10000 Zuschauer werden pro Spielzeit gezählt, davon 4000 ohnehin beim Freiluft-Sommertheater - und in Wirklichkeit ist es nur ein "Club von etwa 150 Personen, der häufiger kommt" sagt Simone Sterr. Sie ist 32 Jahre alt, energisch und eloquent, ist bei Stuttgart und in Konstanz aufgewachsen und war Dramaturgin und Regisseurin in Hannover, Gießen und Celle, danach Leiterin des Kinder- und Jugendtheaters in Würzburg, bevor sie sich in Aalen bewarb, um mal "ganz was anderes" zu machen.

    Geschockt von den Theaterkürzungen, die sie immer dann trafen, wenn sie gerade an einem Haus angekommen war, witterte sie hier die "große künstlerische Freiheit". Unter 70 Bewerbern wurde sie von der Findungskommission ausgewählt - warum, weiß sie selbst auch nicht so genau. Vielleicht, weil sie "verschiedene Regiehandschriften" an das Haus bringen will. Weil sie von zwei energiegeladenen Mitstreitern begleitet wird: Ralf Siebelt und Winfried Tobias, Regisseure und Dramaturgen beide. Vielleicht auch wegen ihrer verspielten Ideen, von denen ihr eher "zu viel als zu wenig" einfallen, mit denen sie die theatrale Schwellenangst überlisten will. Und so verkauft sie persönlich Theaterkarten auf dem Markt, denn schließlich ist "Theater auch ein Ding des täglichen Bedarfs". Oder entwirft Theater-Trimm-dich-Pfade und Bingospiele, bei denen man Texte gewinnen kann, römische Gelage, wo Zuschauer an langen Tafeln speisen und von Schauspielern bekocht werden, Live-Hörspiele im dunklen Stollen des Besucherbergwerks, gemeinsames Tatortgucken mit Schauspielern, Kunstperformances in der Straßenbahn mit Hilfe einer ortsansässigen Künstlerin. Aber Simone Sterr hat noch viel mehr vor: sie hat das feste Schauspielensemble von vier auf sechs Personen aufgestockt, die Spieltage von vier auf fünf in der Woche erhöht, den Spielplan fast verdoppelt - statt durchschnittlich sechs sollen hier jetzt pro Saison elf Premieren stattfinden, darunter die deutsche Erstaufführung von "Gleichzeitig" von Jewgeni Grischkowez, selten Gespieltes wie Gerhart Hauptmanns "Friedensfest" oder auch "Tarelkins Tod" von Alexander Suchovo-Kobylin oder "Der tollste Tag" von Peter Turrini als Freilichtinszenierung.

    Das Kinder- und Jugendtheater liegt ihr besonders am Herzen: Für die Premiere von "Zirkus Sardam" von Daniil Charms wird ein ganz neues Puppenensemble in den hauseigenen Werkstätten kreiert. Selbst inszenieren will sie gleich zweimal, nämlich "Goodbye Lucy, Hello Lucy" von Oliver Bukowski und "Fremdeln" von Kristo Sagor. Ein aufregendes Programm, aber anstrengend - "Eigentlich ein Wahnsinn, was wir hier machen. Wir sind gerade dabei, unsere Grenzen zu testen", sagt Simone Sterr und sieht erschöpft aus. Sie sitzt in ihrem hellen, lichten Intendantenbüro mit Fabriketagenflair, mitten im stadtnahen Wirtschaftszentrum.

    Von außen hat das Theater den sterilen Charme eines Bürogebäudes. Innen dagegen ist es gerade frisch renoviert und hat einen wunderschönen, weiten Bühnenraum von 350 Plätzen erhalten. Doch Simone Sterr, um Öffnung bemüht, hat auch nach anderen Spielorten gesucht. Um das Innen mit dem Außen zu durchdringen, so wie es fast programmatisch in der zweiten Inszenierung der Spielzeit geschieht. Winfried Tobias hat Xavier Durringers "Tötet die Liebenden" in ein ehemaliges Möbelhaus versetzt - ein bisher nicht genutzter Spielort, ein aufgegebener Bau, dessen Abriss die Stadt nur für das Theater noch einmal verschoben hat. "Wer weiß, wie lange sie sowas noch für uns tun", sagt Simone Sterr - und fügt hinzu, wie um sich selbst zu beruhigen: "Aber die Aalener sind schließlich einiges vom Theater gewohnt."

    Hauptprobe, Möbelhaus Krauss. 60 kleine, disparate Szenen, Monologe, und Gedankensplitter über das Lieben und das Töten müssen hier zusammengesetzt werden. Die Schaufenster sind mit Kreide geweißt: Nur eine dünne Membran trennt das Theater von der Straße. Im Laufe des Abends wird sie mit Zeichen und Worten durchlöchert, bis die Stadt direkt in den Bühnenraum dringt. Vier Personen mit Blick nach draußen (Wenzel Banneyer, Ina Pritsche, Friederike von Imhoff, Leif Stawski) sind erstarrt wie lebende Schaufensterpuppen. Nur langsam erwachen sie zum Leben. Es sind die Liebenden: Zyniker, Autisten, Bindungsunfähige, deren Gefühlsreste zu verbaler Gewalt, Wortfetzen, rudimentären Geschichten werden. Die Zuschauer innen werden direkt und intensiv angespielt, mal die Passanten außen mit einbezogen - das macht den disparaten, schwierigen Text reizvoll und dicht. Manchmal verlassen die Schauspieler die Bühne und hasten nach draußen, wo kleine Videoüberwachungsschirme ihr einsames Pärchen-Geplapper und die Geräusche der Stadt nach innen leiten. Draußen bleibt dann und wann ein Aalener stehen - doch die meisten gucken nicht hoch. Alles ist eins, Leben von Theater nicht unterscheidbar, das ist sehr schön gezeigt.

    "Bedbound" von Enda Walsh wird im kleinen Theaterstudio am Marktplatz gegeben. Kein Hinweisschild zeigt, dass im 2. Stock des Rathauses ein TheaterSpielort: ist - "das muss unbedingt geändert werden", regt sich Ralf Siebelt auf. Er ist der Regisseur, Bühnenbildner Andreas Rank hat hier ein ganzes Bretterlabyrinth aufgebaut. Nämlich jenes, in der ein Vater, Möbelhändler Maxie (Gunnar Kolb) seine gelähmte Tochter (Anne Klöcker) eingemauert hat. Eines jener hysterischen, etwas gestrig wirkenden british dramas, die vor einigen Jahren auf den deutschen Bühnen Furore machten. Kolb und Klöcker arbeiten sich redlich daran ab. Der massige Kolb kreist mit den Hüften, schreit, schwitzt und sinniert seiner rücksichtslosen Karriere hinterher, die sich in einen tiefen Fall ins Nichts verkehrt hat. Die ans Bett gefesselte Tochter quäkt bösartig und abgehackt dazwischen - sie spielt in seinem Lebensrückblick willfährig die Opferfiguren ein, und ist dabei doch selbst durch und durch Opfer. Beide pressen und kreischen zu sehr und demonstrieren in einer hasserfüllten, trostlosen Zweierperformance das Elend der Welt, das in Cork möglicherweise stärker zuschlägt als in Aalen. Als Spielzeiteröffnung ziemlich ungemütlich - und doch genau das, was sich Sterr unter einem "unerschrockenen Spielplan" vorstellt. Die lokale Presseresonanz auf "Bedbound" war überwältigend. Ausverkauft ist der Raum mit nur rund 80 Plätzen dennoch nicht. Trotzdem wird Simone Sterr ihr Theaterziel nicht so leicht aus den Augen lassen: Den Menschen in Aalen Erlebnisse zu bieten, die man "bei Zeiss am Band nicht machen kann". Einen Kommunikationsort zu schaffen, der auch unbequem sein kann und vor allem ziemlich verrückt. "Stolpersteine" zu legen, wenn die Gesellschaft zu störungsfrei vor sich hin plätschert. Doch die Öffnung des Theaters, das spürt sie nach den ersten zwei Monaten, wird wohl doch "schwerer, als wir uns das vorgestellt haben".
    (Dorothea Marcus)